Wir sind Gefangene
Umzug ist doch schon erledigt jetzt?« Ich sagte: »Ja.«
Am andern Tag ging ich zur Mühle. Im Büro wurde ich dem Direktor vorgestellt. Der kannte mich noch von zu Hause. Er lächelte gutmütig in seinen grauen Vollbart und sagte, daß Eugen mit ihm gesprochen hätte, ich könnte morgen eintreten. Ich nickte.
»Kommen Sie«, sagte er dann und führte mich in die Mühle hinab. Dort empfing uns ein Surren und Sausen von takelnden Maschinen. Der ganze Bau schien zu beben.
Ich wurde einem hageren, alten, gebückten Mann vorgestellt, der furchtbar schrie.
»Der kommt morgen zu uns«, sagte der Direktor ebenfalls sehr laut. »So! ... Ist ein schmächtiges Bürschlein«, sagte der Obermüller und lächelte mich spöttisch an. Der Direktor verließ mich dann. Der Obermüller fragte mich noch allerhand und zeigte mir die Mühle. Sie hatte vier Stockwerke. Überall standen Siebmaschinen, Mahlmaschinen, an denen Säcke hingen, die sich langsam füllten. Die Arbeiter standen da, banden die Säcke zu, leerten die Schrottonnen
in die Maschinen und hielten alle inne, als sie mich sahen, betrachteten mich fremd und beinahe verwundert. Ihre Kleidung war weiß vom Mehlstaub, ihre Gesichter und Bärte ebenso. Auffiel mir nur, daß sie gleichfalls ungeheuer laut schrien, wenn sie redeten. Aber das mußte man hier.
Wir fuhren alsdann mit dem Mehlaufzug bis in den Dachboden hinauf. Da standen, eng aneinander gepreßt und aufgeschichtet, Hunderte von Säcken. Als mir der Obermüller alles gezeigt hatte, führte er mich ans Tor und sagte: »Also, morgen dann um sechs Uhr. Nicht verspäten!« Ich dankte und ging.
Der Tag war herrlich. Die Bäume im Englischen Garten waren noch kahl, und auf den kleinen Wiesenstreifen lagen schmächtige Schneekrusten. Der Himmel hatte die heitere Farbe des Frühlings. Die Dächer der letzten Ausläufer der Mühle tropften. Mir war merkwürdig zumute. Eine Sehnsucht zu wandern überkam mich, und plötzlich verlangte mich nach Wiesen, Hügeln und nach unabsehbarem Land. ..
Ich schritt nachdenklich weiter, nicht wissend wohin. Jetzt erst dachte ich daran, Schorsch aufzusuchen. Ich wußte, daß er jetzt sicher anzutreffen sei im Cafe. Ich wollte mit ihm sprechen. Ich hatte Drang nach einem Menschen. Sagt er, so dachte ich vollkommen willenlos, das machst du nicht, so gehe ich morgen nicht zur Mühle. Über das Weitere dachte ich nicht nach.
Morgen heißt es die Arbeit antreten, schoß es mir durch den Kopf, aber heute, heute soll noch in Freiheit gelebt werden, getobt, gesoffen, Spektakel gemacht, irgend etwas. Es war ja alles so gleichgültig, so entsetzlich gleichgültig! Eine öde Fremde hatte sich ausgedehnt, eine Heimatlosigkeit und ein Alleinsein, ein Abgeschnittensein von allem.
Ich ging schneller. Im Cafe traf ich auch richtig Schorsch. »Was ist's jetzt mit deinem amerikanischen Bruder?« fragte er mich.
»Nichts«, antwortete ich niedergeschlagen, »ich soll morgen in der Tivolimühle zu arbeiten anfangen. Zweiundzwanzig Mark bekomm' ich in der Woche.« »Und wie lang ist die Arbeitszeit?« fragte er weiter. »Von sechs bis sechs«, sagte ich.
»Ein solcher Mist! Das würde ich nicht tun«, brummte er.
»Ja, schon... Aber die geben mir kein Geld mehr, und ich weiß nicht, was ich tun soll«, jammerte ich.
»Schließlich, eine Zeitlang tust du es halt mal«, sagte Schorsch dann und fuhr fort: »Wenn du ins Büro kommst, geht's ja.«
Ich war gefestigt und zufrieden und ergab mich in mein Schicksal. »Herrgott, heute möchte ich noch einmal toben und saufen!« sagte ich dann. Schorsch sah mich an und sagte lächelnd: »Ja, ich eigentlich auch.«
Dann auf einmal fragte er: »Hast du Geld bekommen von deinem Bruder?«
»Ja, etwas schon«, gab ich zu.
»Ja, also komm! Dann geht's ja«, sagte er darauf und verließ mit mir das Cafe.
Eine ekelhafte Stimmung hatte uns beide erfaßt. Keiner wußte recht, was er anfangen sollte mit sich. Wir flegelten entschlußlos weiter. Um uns Luft zu machen, brüllten wir vorbeisausende Autos an, stießen Passanten, schrien unverständliche Laute manchmal plötzlich grell auf, daß Vorbeigänger entsetzt aufschraken.
Im Innern der Stadt suchten wir eine Animierkneipe auf und vertranken unser Geld bis auf etliche Mark. Im Heimgehen begannen wir Stirner auf der Straße laut zu rezitieren, schimpften auf den Bürger und auf die Moral und gingen sehr bedrückt auseinander. Als ich auf meinem Zimmer war, merkte ich plötzlich, daß ich keinen Wecker hatte. Es
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