Wir sind Gefangene
war wenig da, gab es nur Bier. Gegen Abend zogen wir dann ins Künstler-Cafe Stephanie und pumpten Bekannte an.
Dieses wilde Leben gefiel mir ganz gut. Es verscheuchte alles Nachdenken. Man lebte gewissermaßen immer in der Verschleierung. Wenn man in der Frühe aufwachte, hatte man einen verdammten Katzenjammer, alles lag wieder eklig und trist vor einem. Dagegen half nur Saufen, Herumlaufen, sich unter andere Leute mischen.
So lernte ich allerhand Literaten, Maler und sonstiges Kaffeehausvolk kennen. Ich saß dumm zwischen ihnen und versuchte ein möglichst bedeutendes Gesicht zu machen. Es wurde philosophiert, gestritten oder psycho-analysiert. Mit aller Anstrengung hörte ich oft hin, verstand aber nicht das mindeste. Da wurden literarische Größen und ewige Werte mit ein paar Worten abgetan, förmlich vernichtet. Ich staunte wie ein junger Spatz und sagte nichts. Das war eine neue Welt. Hier also, dachte ich, fängt dein Weg an.
Als kein Buch mehr da war, lehrte mich Jung das Versetzen. Ich trug alles Entbehrliche aufs Pfandhaus und hielt mich so über Wasser. Ein wildes Bohemeleben hüb an. Nächte hindurch wurde auf irgend jemandes Kosten getrunken, gekegelt oder getanzt. Hatte der kein Geld, so hatte ein anderer etwas.
Die Leute waren viel klüger, viel gewandter als ich. Als ich langsam auch ein wenig zu reden anfing, wurde ich verspottet. Schiefe, fast mitleidige Blicke musterten mich. In der Gruppe »Tat« lernte ich Schorsch näher kennen.
Wir kamen auch öfter zusammen und schlossen uns bald aneinander an. Wir lasen Stirner, Nietzsche und Kropotkin, und Schorsch erklärte alles sehr einfach. In kurzer Zeit waren wir die besten Freunde. Ich klagte ihm mein Leid und hielt mich an ihn. Er arbeitete stundenweise in Konditoreien und riet mir, da ich ihm sagte, daß ich Bäckerarbeit machen könnte, zur Bäckerherberge zu gehen. »Man muß sich irgendwie auf die bequemste Art über Wasser zu halten verstehen«, sagte er, »die andere Zeit kann man dann für sich ausnützen.« In der freien Zeit las er oder war mit Kameraden zusammen. Er war älter als ich und hatte ein viel härteres Leben hinter sich. Wir unterhielten uns oft Stunden und aber Stunden. Er setzte mir auseinander, was das sei, ein individualistischer Mensch. Einer sei das, der alles verneint, den Staat, die Gesellschaft, das Gesetz und die Familie, der sich über die Moralbegriffe hinwegsetzt und über alles, was die Bürger erfunden hätten. Denn diese Hunde hätten das bloß in den Jahrhunderten mit aller Raffiniertheit ausgedacht und sich nutzbar gemacht, damit man ihr Wohlleben nicht angreife, daß sie auf ihrem Besitz hocken könnten und damit die Dummen, die Proleten, für sie arbeiten und sie noch reicher machen. Er sprach dies alles nicht etwa begeistert, sondern trocken und beinahe einfältig. Aber seine Schlußfolgerungen waren für mich immer zwingend. Das alles leuchtete mir vom ersten Moment ein. Was die Literaten, was Jung, was das ganze Kaffeehausgevölke disputierte, verwirrte nur.
»Moral? ... Was ist das? ... Ein Sparren!« fing er in der Stilart Stirners an und hieß alles, was den Menschen hemmt, eine »fixe Idee«. Gierig hörte ich zu, und viel davon klang mir buchstäblich wie eine Verkündigung. Jetzt wurde mir leichter, jetzt drückte die Schandtat gegen Maurus nicht mehr so auf mich, jetzt fing es bei mir an mit seltsamen Entscheidungen.
Ich ging in jeden Versammlungsabend der Anarchisten. Der Mensch, sagten mir diese Leute, sei ein Opfer der Gesellschaft. Ich merkte bald, daß dies für mich ein sehr nutzbringender Gedanke sei, denn ich legte mir denselben so aus: Du kannst machen, was du willst, schuld ist immer bloß die Gesellschaft, du bist ihr Opfer, dich trifft keine Verantwortung.
Endlich, endlich hatte ich etwas - ja, was denn, was denn? Eine neue Religion, eine ganz nach mir eingerichtete Moral. Ich jubelte innerlich. Ganz frei wurde mir. Aber samt all diesen Erkenntnissen wurde mein Leben immer wüster. Es wurde mir selber unerträglich. So konnte es nicht weitergehen. Plötzlich war ein Drang in mich gefahren, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich beredete alles mit Schorsch. Er gab mir Winke im Stellensuchen. Ich ging auf die Bäckerherberge und ließ mich für Arbeit vormerken. Die Kaffeehausgesellschaft, in die ich geraten war, widerte mich an. Zuletzt verkehrte ich fast nur mehr mit Schmocker, meinem Zimmernachbarn, und mit Schorsch. Da ich kein so hohes Logisgeld mehr bezahlen konnte, bezog ich
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