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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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meistens Anrempler. Ich war »unten durch«, ganz und gar. Ich ließ mich überhaupt nicht mehr sehen. Aus Angst besorgten meine Kameraden den Dienst für mich. In Marggrabowa erkrankte ich an Ruhr, wurde zur Krankensammelstelle geschafft und von da aus ins Reservelazarett Goldap. Da ich jede Medizin verweigerte, drohte der Arzt mit einem »Wieder-an-die-Front-Stecken«, was mir sehr erwünscht gewesen wäre. Halb gesundet, mußte ich mich bei der Etappen-Kommandantur melden.
    »Wo gehören Sie hin?« fragte der diensttuende Leutnant dort. Ich nannte meine Formation. Der Mann hielt sich die Ohren zu: »Ihre Truppe ist längst in den Karpathen. Wo liegt Ihr Ersatztruppenteil?« »In München!«
    Ich bekam einen Schein und fuhr mit dem nächsten Zug der Heimat zu. Die Reise ging durch Berlin. Ich stieg aus und wollte meine Freunde besuchen. Jung war an der Front, die beiden Oehrings ebenfalls. Nur Cläre, die Freundin Richards, traf ich. Sie war hocherfreut und besorgte mir eine Unterkunft. Ich blieb drei Tage. In dieser Zeit suchte ich einmal Oehrings Vater auf. Alt war er geworden, sehr alt. Er öffnete die Tür weit und empfing mich mit einem warmen Händedruck, führte mich ins Wohnzimmer und brachte Essen und Zigarren. Allerhand Neues über meine Freunde erfuhr ich von ihm. Alfred Lichtenstein war gefallen. Fritz Oehring gefangen. Trübselig ließ der Alte den Kopf hängen. Seine lahme Frau hockte im Lehnstuhl am Fenster. Sie sagte gar nichts und schaute nur immerzu teilnahmslos ins Leere. »Ja, dieser Krieg«, sagte ich.
    »Dieser Krieg«, fiel mir die Alte wiederbelebt ins Wort, »er hat das Wesenhafte hervorgeholt. Er wird die deutsche Jugend gesunden.« Und auf einmal stand er groß da und schwang wie einstmals die beschwörenden Arme: »Das Schicksal macht uns groß! Viel Feind, viel Ehr! Unsere Herzen in der Heimat pulsen bis zum letzten Schlag für unsere löwenmutige Jugend, die draußen steht mitten in Schlacht und Sieg!« Er begann zu zittern, Tränen flössen über seine Wangen. Er drückte mir innig die Hand und reichte mir einen Pack bester Havannazigarren.
    »Tapferer Krieger«, sagte er, »nehmen Sie diese kleine Liebesgabe als bescheidenen Dank für Ihren Heldenmut«, und seine Stimme floß wieder in ein gerührtes Vibrieren, »ach, einmal - Gott gönne es mir - werden meine Helden wieder in dieser Stube sitzen!« Sein Blick glitt über seine kranke Frau, die bewegungslos da saß. »Und dankbare Eltern werden ihren Erzählungen lauschen wie einem Quell von Kraft und Jugend!« Jetzt weinte er offen und hemmungslos, drückte mir nochmals zum Abschied die Hand und stöhnte: »Und so wird am deutschen Wesen, hoffen wir, die Welt genesen!«
    Ich sah ihn an, ich sah seine Frau an. Seltsam, wirklich seltsam, dachte ich. Das klang wie aus einer anderen Welt, die ich nie begriff. Sehr nachdenklich kam ich auf die Straße.
    In München sagte der Wachtmeister auf der Schreibstube ganz verdutzt zu mir: »Sind Sie schon wieder da?«
    »Jawohl, Herr Wachtmeister«, sagte ich. Es war zu erkennen, daß der gute Mann Respekt vor mir hatte, denn er hatte nie mehr als München gesehen.
    »Gehen Sie zum Oberarzt und lassen Sie sich untersuchen«, befahl er, denn er hatte Angst, daß ich Ruhr einschleppen könnte. Als hinreichend erholungsbedürftig bekam ich sofort Urlaub. Ich fuhr nach Hause. Da hatte sich vieles geändert. Mein Bruder Max war gefallen, meine Schwester Emma lag hoffnungslos an einer Lungenkrankheit darnieder, und unser altes Haus gehörte jetzt der fremden Frau und den Kindern meines gefallenen Bruders. Die Mutter und die Schwestern erwogen bereits wieder ihre Übersiedelung in das kleinere Anwesen, das sie schon einmal bewohnt hatten.
    Maurus war noch nicht eingezogen und hatte in München noch immer die Stellung als Konditor, Nanndl lernte bei einem Friseur in der Stadt. Ich ging zu beiden nicht.
    Es war eine Luft von gegenseitiger Feindschaft im Haus. Man sah voraus, lange geht das nicht. Ich wußte nicht recht, was ich hier sollte, und jeder Tag verstärkte mein Unbehagen. Meine Mutter rackerte wie gewöhnlich den ganzen Tag. Sie buk jetzt auch das Brot, denn es gab keinen Gesellen. Ihre Haare waren schon grau meliert. Mitunter hockte sie todmüde und und stöhnte: »Das ist's jetzt mit diesem Scheißkrieg! ... Der Maxi ist hin und alles geht in andre Hände über ... Fünfunddreißig Jahr' hab' ich mich geplagt und jetzt kann ich gehn ...«
    Eine bittere Verdrossenheit stand auf ihrem Gesicht.

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