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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Land.

XIX IDIOT

    Unser Zug fuhr durch Berlin und hielt in Görden bei Brandenburg an der Havel. In Berlin schrieb ich eine Feldpostkarte an Cläre Oehring und gab sie irgendeinem Mann am Bahnhof. Ich glaubte nicht, daß sie ankomme. Ich wußte schon, wo wir hinkämen, und gab die Adresse an, bat, wenn es ginge, mich zu besuchen. Schon als der Zug wieder anfuhr, hatte ich alles vergessen.
    Ich kam mit Verwundeten in ein Vereinslazarett. Wir wurden gebadet, bekamen frische Wäsche und legten uns in die angewiesenen Betten. Dann kamen die Schwestern geschäftig angeflitzt und brachten uns auf Tellern Dampfwürste mit Kartoffelsalat.
    Was tue ich bei den Verwundeten? dachte ich. Die Schwester reichte mir die Dampf wurste. Platsch! - lagen sie an der sauberen, weißen Wand.
    Allgemeine Bestürzung. Die Schwestern kamen angerannt, sahen mich staunend an und bestürmten mich mit Fragen: »Was ist's denn? Können Sie das nicht essen?«
    »Das ist das Pferd«, sagte ich ruhig. Ein allgemeines Kopfschütteln. Der Arzt kam, ging von Bett zu Bett, fragte jeden aus und war sehr freundlich. »Na, was haben Sie uns denn von Rußland mitgebracht?« fragte er und lächelte. »Ich hab' einmal einen Magenkatarrh gehabt, Herr Doktor«, sagte ich.
    »So - und jetzt? Jetzt sind Sie ganz gesund?« fragte der. Ich nickte lachend. Das Gesicht des Doktors veränderte sich ein wenig. »Ja, warum hat man Sie denn dann hereingeschickt?«
    »Ich weiß nicht ... Man hat mich eben mitgeschickt«, antwortete ich. »Hm, soso - na, da müssen wir die Papiere abwarten«, sagte der Doktor und sah mich an. Dann ging er weiter.
    Am zweiten Tag gab es mittags Rindfleisch mit Gemüse. Wieder warf ich den Teller an die Wand. Und wieder kamen die Schwestern, fragten, bestürmten mich und sahen mich mitleidig an. »Das ist das Pferd«, sagte ich wieder.
    Ich bekam Pfannkuchen, Rühreier oder Biskuit und durfte aufstehen.
    Der Arzt lächelte mich jedesmal freundlich an, und ich lachte ebenfalls.
    Endlich waren die Papiere da. Ich mußte ins Zimmer des Arztes. »So, Graf«, sagte der ganz freundschaftlich, als ich mich neben ihn gesetzt hatte, »so, jetzt wollen wir mal ein bißchen rechnen.« Er hatte einen großen Foliobogen vor sich liegen und fragte: »Wieviel ist zwei und zwei?«
    »Vier, Herr Doktor«, antwortete ich. »Gut, gut«, murmelte er beifällig.
    »Was ist für ein Unterschied zwischen einem Hund und einem Hausdach?« fragte er etwas gespannter und betrachtete mich scharf durch seine glitzernden Brillengläser.
    »Das Hausdach ist oben, und der Hund läuft auf der Erde«, war meine Antwort. Alles schrieb der Arzt auf. Er wandte sich wieder an mich und zeigte mir einen Apfel: »Wenn ich diesen Apfel in vier Teile zerschneide, wie heißt man da den einzelnen Teil?«
    »Ein Viertel, Herr Doktor«, antwortete ich prompt. Wieder bekam ich ein Lob, und das Resultat wurde zu Papier gebracht.
    »Und wenn ich jetzt die ganzen Teile noch mal halbiere, wieviel habe ich dann?«
    Ich stockte, sah den Fragenden an. Er ermunterte mich noch mal und schnitt tatsächlich ein Viertel des Apfels auseinander: »Na? Na ...?« »Merkwürdig, Herr Doktor«, sagte ich bieder und machte mit der Hand einen Wischer über meine Stirn, »grad wie wenn alles weggewischt ist da drinnen. Ich kann es Ihnen mit dem besten Willen nicht sagen.«
    Der Arzt sah mich musternd an, lächelte ein wenig und machte schließlich einen Strich mit der Feder auf das Papier. Dann mußte ich mich auf den Operationsstuhl setzen und wurde untersucht. Wieder kam die merkwürdige Augenmanipulation. Fertig damit, konnte ich gehen.
    »Sie werden wir zur Mutter heimschicken, meinen Sie nicht?« fragte der Arzt lächelnd an der Tür.
    »Da bleib' ich schon lieber beim Militär, Herr Doktor«, sagte ich darauf, »die daheim haben auch nichts zu essen, und da bin ich bloß überflüssig.«
    Im Tagessaal bestürmten mich alle mit Fragen nach meiner Krankheit.
    »Ich weiß nicht, der Doktor weiß es«, gab ich zur Antwort. Da - was hatten denn die Kranken, daß sie so um mein Bettende standen und immer auf eine Stelle starrten? Ich ging heran, und jetzt erst bemerkte ich meine Fiebertafel. Hinter dem gedruckten Wort Diagnose stand frisch mit Tinte geschrieben: »Idiot«. Dahinter war ein Fragezeichen. Etliche sahen mich sonderbar an. Ich brach auf einmal in ein wüstes Gelächter aus, tanzte förmlich und steckte den ganzen Saal mit meiner Fröhlichkeit an. Die Schwestern ließen mich alles machen, und

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