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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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das ganze Haus dumpf diese Strophen, die ich nie wieder vergessen habe:

    »Gardinen von Eisen geflochten,
    und alles verhangen mit Draht.
    Die Freiheit, die ist uns genommen, genommen,
    der Kerker ist unsere Schmach.

    Und wollen uns Freunde besuchen,
    so läßt sie der Schließer nicht ein.
    Dann fangen wir laut an zu fluchen, zu fluchen
    und mörderlich laut an zu schrei'n!

    Die traurige Zeit ist vorüber,
die traurige-Zeit ist vorbei!
Dann stoßen wir vielfach die Gläser, die Gläser,
die traurige Zeit ist vorbei! «
    Der Major kam angeritten und erkundigte sich, ob ich schon esse. Nein, hieß es. Er ritt wieder fort.
    Ich begann mich zu wundern. Unruhe kam. Nichts geschah. Auch zugrunde ging ich nicht. Mittags am neunten Tag klopfte ich an die Tür. Die Leute kamen ängstlich daher und öffneten.
    »Ich möchte entlaust werden«, bat ich. Die ganzen Gesichter fielen in ihre alte Trübseligkeit. Etliche schüttelten stumm die Köpfe. Ich mußte meine Sachen zusammenlegen. Zwei Landsturmmänner nahmen mich in die Arme und führten mich vorsichtig wie einen Schwerkranken durch das russische Dorf. Auf der Straße sah ich Dreier und den kleinen Kraftfahrer Römer. Sie schauten weg. Ich machte mit aller Anstrengung ein todernstes Gesicht. In der Entlausungsanstalt angekommen, halfen mir die zwei Landstürmler beim Entkleiden und trugen alles hinaus in den Entlausungsapparat. Ich stieg ins heiße Wasser. Neben mir in den Badewannen lagen Urlauber und unterhielten sich lachend. Jetzt kam rasend schnell die Schwäche. Von den Füßen stieg sie herauf zum Kopf. Der kalte Schweiß kam mir.
    »Kamerad«, sagte ich hastig zu meinem Nebenmann, »mir ist furchtbar schlecht, hast du nicht einen Schluck Rum?«
    Die Landsturmmänner sprachen mit den Entlausungswärtern. Der Angesprochene reichte mir seine Feldflasche. Es war richtiger Frontrum. Ich machte einen großen Schluck und gab eilig die Feldflasche zurück. Ein Zittern erfaßte mich. Schwindel kam. Verschwommen sah ich die Landstürmler herankommen, wollte aufstehen und fiel patschend zurück in die Wanne. Laute summten undeutlich um mich. Nachher erwachte ich in einem warmen Zimmer. Ein Arzt war über mich gebeugt, manipulierte mit einem Instrument an meinen Augen. Aber alles schwebte nur. Jemand fragte immerzu nach meinem Geburtstag und was wir heute für einen Tag hätten. Die Stirn wurde mir eingerieben. Die Haut biß davon, und ein scharfer Geruch kam in meine Nase. Ich öffnete die Augen weit. Immer noch der weiße Arzt, dahinter ein Sanitäter und der eine von den Landstürmlern.
    »Sind Sie krank?« fragte der Arzt. Ich schüttelte lässig den Kopf. »Was haben wir denn heute für einen Tag?« fragte er wieder.
    »Weiß ich nicht, weiß nicht«, lallte ich starräugig.
    »Wann sind Sie denn geboren?« wurde ich wieder gefragt. »Weiß nicht, weiß nicht.« »Haben Sie noch eine Mutter? Leben Ihre Eltern noch?«
    »Weiß nicht, weiß nicht«, sagte ich völlig ermattet. Alles schwamm, war so leicht, so gleichgültig. Nacht war schon, als ich in meiner Zelle wieder aufwachte. Wie ich hierhergekommen war, wußte ich nicht. Man hatte mich in wollene Decken gewickelt. Ich wurde verdrossen, ganz verdrossen. Also wieder in diesem Loch! Es hilft alles nichts, ich muß krepieren, sonst lassen sie mich nicht los, überlegte ich willenlos. Die Augen fielen wieder zu.
    In der Frühe des anderen Tages trugen mich die zwei Landsturmleute heraus. Ich schlug die Augen auf. Der Feldwebel strich mir über die Stirn und sagte bewegt: »Kommst zu Muttern, Kamerad.« Dann lud man mich auf einen Trainwagen, fuhr zur Bahn und übergab mich einem Lazarettzug. Ich lag immerzu im Halbschlaf. Träume rannen hin und her. Ich fühlte wieder frische Luft, dann Wärme und ein Bett. Durch die Schlafwände brachen Geräusche. In die Nase stieg Medikamentengeruch. Wie lang es so ging, weiß ich nicht. Ich erwachte plötzlich, sah ein Schwesterngesicht ganz nahe, das lächelte, und schlief wieder weiter.
    Es stak etwas in meiner Kehle. Ich riß wieder die Augen auf. Die Schwester löffelte mir Grießmus ein. Ich spie alles gewaltsam heraus, der Schwester ins Gesicht. Sie fauchte auf und schrie. Aber ich schlief schon wieder.
    Dieser Traumzustand dauerte - sagte man mir - beinahe zwei Wochen. Zeitweilig riß ich die Augen auf, sah fremde Gesichter in Krankenkitteln und schlief wieder ein. Allmählich erholte ich mich, ließ auch im Wachen die Schwester gewähren, wenn sie mir einlöffelte. Der

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