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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Spülungen machen.
    An einem Tage kam der Arzt zu mir und sagte: »Sie kommen wahrscheinlich in die Garnison.«
    »Ich bin kein Soldat, Herr Doktor«, sagte ich. Er sah mich musternd an.
    »Glauben Sie, Herr Doktor, daß man jetzt, nach eineinhalb Jahren Irrenhaus, einfach wieder mit dem Gewehr spielen kann?« fragte ich abermals. Ohne darauf einzugehen, fragte der Doktor: »Wollen Sie Urlaub?«
    »Das kommt mir gerade vor, als ob man dem Hund die Kette verlängere«, antwortete ich.
»Sie wollen also frei kommen?«
»Ich bin frei«, sagte ich und setzte eindringlicher hinzu:
    »Und wenn Sie mich noch Jahre hier behalten. Es tut nichts. Ich bin frei. Es stört mich nichts mehr.«
    »Wenn Sie nichts mehr stört, dann können Sie doch auch wieder Soldat sein«, warf der Arzt überlegen ein.
    »Wenn ich eine Wiese sehe, gehe ich einfach los, und wenn Sie mich in die Ersatztruppe schicken, sage ich: Ich bin kein Soldat mehr und gehe, dann komme ich wieder hierher oder ins Gefängnis«, sagte ich wieder. Der Arzt besann sich einen Augenblick und fixierte mich prüfend.
    Tage vergingen, ohne daß man die geringste Notiz von mir nahm. Tiefnachmittags einmal kam der Feldwebel und gab mir einen Urlaubsschein. Ich zögerte und fuhr endlich ab. In München war kein Bekannter mehr. Daheim und im Dorfe sah man mich mit beinahe furchtsamen Blicken an. Nach einigen Tagen kam eine Karte vom Lazarettfeldwebel folgenden Inhalts: »Da Ihre Entlassung aus dem Heeresdienst bereits verfügt ist, werden Sie gebeten, sich hierher zu begeben. Das Menagegeld, das Sie erhalten haben, müssen Sie wieder zurückerstatten. Es wird Ihnen auf der Schreibstube Ihres Ersatztruppenteils wieder ausbezahlt.«
    Ich fuhr in Zivilkleidern und ohne Geld nach Haar. Der Feldwebel donnerte. Aber es war nichts zu machen. Ich erhielt auf dem Sekretariat meinen Miltärpaß ohne Vermerk und konnte gehen. Zugleich mit mir wurde auch August entlassen. Seine Mutter war gekommen, um ihn abzuholen. Jetzt schritten wir drei durchs Tor ins Freie. Die Straße war platschig weich. Der Schnee schmolz und die Sonne stand groß und klar im offenen Himmel ...
    August hatte es sich nicht nehmen lassen: Die zwei mit Militärknöpfen gefüllten Säcke baumelten von seiner Schulter herab, mit ausgetretenen Sandalen, die er die ganze lange Zeit in der Anstalt getragen hatte, stampfte er durch die Pfützen, daß der nasse Kot hoch aufspritzte, und sagte unentwegt zu seiner schimpfenden Mutter: »Ich geh' ins Gebirg'!«
    So wird er wohl heute noch wandern, dieser selige Mensch ohne Hemmung und Not ...
    In München vertranken wir unser letztes Geld und schieden. »Geh mit«, sagte August treuherzig und sah mir offen in die Augen. Einen Augenblick besann ich mich zögernd. »Du wirst eine feine Nummer!« meinte August wieder.
    Die alte Mutter stand da und sah mich lächelnd an. Hin und her wogte es in mir. Auf einmal, wie im Traum, schüttelte ich die Hand des andern und ging.
    Manchmal, wenn ich ins Nachdenken versinke, steht August vor mir, so wie ich ihn verließ.
    Ich dummer Teufel, ich dummer! Warum bin ich damals nicht mit ihm gegangen!

ZWEITER TEIL

    SCHRITT FÜR SCHRITT

I
EIN UNSINN HÖRT AUF, EIN NEUER BEGINNT

    Also war ich wieder daheim, frei vom Militär, und konnte abermals von vorne anfangen.
    Es war still im Hause und still war es auf dem Dorfe. Seit mein Bruder Max gefallen war, gehörte das Anwesen laut Testament der Witwe und den drei kleinen Kindern. Immer noch hausten meine zwei älteren Schwestern und meine Mutter mit ihr zusammen. Theres leitete das Geschäft, Mutter buk und verrichtete die Hausarbeit, Emma war bereits so krank, daß sie meistens liegen mußte, und die Witwe trauerte und war sehr dick geworden. Nanndl hatte inzwischen ausgelernt und war bei ihrem Friseur in München in Stellung geblieben. Maurus lag schon lange in den Vogesen und von unseren Brüdern Lenz und Eugen in Amerika hatten wir seit Kriegsanfang nichts mehr gehört.
    Meine Bekannten hatte ich so ziemlich aus den Augen verloren und neue waren keine hinzugekommen. Schorsch schrieb manchmal aus Berlin. Von ihm erfuhr ich ab und zu etwas über Jung und die Oehrings. Es war noch immer Krieg.
    Offen gestanden, jetzt, da ich sozusagen wieder in meinem eigenen Leben stand, war es mir widerlich, so plötzlich aus einem jahrelang gewohnten Trott herausgerissen zu sein. Ein Mensch - gewaltsam in eine Masse gezwängt - verliert spielend leicht sein bißchen Willen, läßt sich gewissermaßen

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