Wir sind Gefangene
nicht weniger als fünfmal aus der Anstalt entfloh und einmal bis in sein Heimatdorf kam. Dort nahm er einen Strick und lief zum nächsten Birnbaum, befestigte ihn, machte eine Schlinge und steckte seinen Kopf hinein, als seine Leute, Feuerwehrmänner und der Gendarm ihn festnehmen wollten. »Auf der Stell' erhäng' ich mich, wie mich einer anrührt!« drohte er, bis schließlich die Verfolger unverrichteterdinge wieder abzogen. Spät in der Nacht kam er selbst wieder in Haar an. Auf alle Fragen und Zurechtweisungen der Ärzte und Wärter antwortete er mit schüttelndem Gelächter: »Daß sich was rührt! So kann's auch nimmer weitergehen!«
Einem Münchner Maurermeister und Landsturmmann mußte der Leib aufgeschnitten werden, weil er die fixe Idee hatte, er sei schwanger. Ganz »normal« kam er in die Anstalt, auf einmal aber legte er sich zu Bett und rief jedem Vorbeigehenden zu, indem er seine Bettdecke hochhob und den Bauch entblößte: »Da, da lang her! ... Spannst' es, es rührt sich schon ...«
Mittags, wenn die Teller auf den Tisch gestellt wurden, ging wieder ein anderer her, legte kleine Papierscnnitzel hinein und sagte zu jedem: »So, da hast du deine Brotmarke, deine Fleischkarte, deinen Anteil Fett und jetzt friß! Friß!«
»August« aber, der eigentlich Lorenz Heppenheimer hieß, der Feldwebel, war sozusagen die große Nummer. Er war eines Tages aus seinem Schützengraben im Westen gekrochen und marschierte, so wie er war, der Heimat zu. Auf dem Wege suchte er sich zwei Säcke und hing sie um seine Schulter, und wo er einen Verwundeten oder Toten fand, ging er hin, schnitt ihm sämtliche Knöpfe von den Kleidern und sammelte dieselben, bis die Säcke voll waren. So hatte man ihn in der Nähe von Straßburg gefaßt und ins Irrenhaus gebracht. Seine Kraft war märchenhaft. Er war Akrobat und Inhaber eines Wanderzirkus. Man erzählte sich, daß er einen bei seiner Festnahme beteiligten berittenen Feldgendarm samt Roß umgeschmissen hätte. Die Wärter fürchteten ihn. Zwei hatte er in der Erregung einmal halbtot geworfen. Man konnte ihm nur mit Güte beikommen.
Eine Zeitlang schlug er jedes Fenster mit der blanken Faust ein, und als die Wärter ihm mit Dauerbad drohten, sagte er ruhig mitgehend: »Ach, ich bin sowieso so dreckig.« Den Arzt redete er per »Max« an und duzte sich mit ihm wie mit jedem. Er spielte glänzend Schach und gewann immer. Auch konnte er eine Menge Kartenkunststücke. Wollte man ihn ausfragen nach Geburt und Herkunft, so erzählte er wunderbare Geschichten. Er wäre im tiefen Meer als Pflanze zu den Zigeunern gekommen und hätte undenkbare Schätze und Pferdeställe hinter der Anstalt. Wurde er gewogen, so sagte er todernst: »Ach, ich hab' schon wieder um siebenhundert Zentner abgenommen.« Und dabei stöhnte er wie ein Kind.
Einmal kam seine Mutter zu Besuch. Sie war alt und grau. Er umschlang sie und stellte sie »Max« vor, sagte: »Das ist meine Geliebte, mein Schatz!«
»So«, lachte der Arzt, »wie alt ist sie denn?«
»Neunzehn Jahr'«, sagte August pikant und machte eine anzüglich derbe Geste. Wieder ein anderes Mal band er sich die rechte Hand mit dem Taschentuch sorgfältig ein. Der Arzt kam und fragte: »Na, August, was haben Sie denn?« Er wollte die Hand anfassen, aber August zog sie scheu und wehleidig zurück, zuckte zusammen und jammerte: »Fffw, au! Au!«
»Warum haben Sie denn die Hand eingebunden?« erkundigte sich der Doktor.
»Weil sie mir lieber ist als die andere«, sagte August winselnd. Dieser Mensch war mein Freund das ganze Jahr hindurch, das ich in dieser friedlichen Herberge verbringen mußte. Wir lagen immer zusammen im Garten, trieben Zauberkunststücke oder August erzählte seine Geschichten. Wohl gesellten sich ab und zu andere Insassen zu uns, ein merkwürdig verworrener Medizinstudent und ein rheinländischer Lehramtskandidat namens Hobrecker, der immer Zigaretten spendierte und große Sprüche machte. Aus irgendeinem Grunde aber mied ich fast jeden und verkehrte nur mit August. Allmählich mit dem vielen Sprechen wurde meine Zunge wieder etwas geläufiger. Der Arzt brachte mir Papier und Bücher. Ich las viel und machte Aufzeichnungen. Schorsch kam eines Tages aus Berlin und besuchte mich. Ich klagte über Kopfweh und viel Schleim in der Nase. Eine Untersuchung ergab Stirnhöhleneiterung. Zweimal in der Woche mußte mich ein Wärter ins Garnisonslazarett nach München bringen. Die Nase wurde mir ausgeschnitten, und ich mußte
Weitere Kostenlose Bücher