Wir sind Heldinnen: Aus dem unglaublichen Leben der Alleinerziehenden (German Edition)
noch unter die Leute bringen, koste es, was es wolle. Denn heute war der Tag der Tage. Der erste Tag vom Rest ihres neuen Lebens. Und deshalb würde sie sich auch nicht von so kleinen Irritationen wie einem verstörten Babysitter und dessen Beziehungsnöten aus der Bahn werfen lassen. Überhaupt: Beziehung, pah, lachhaft war das doch. Nur weil die sich drei Tage lang mit einem pickeligen Mitschüler ein paar belanglose SMS hin- und hergeschickt hatte, hat sie doch noch keine Beziehung. Geschweige denn das Recht auf Liebeskummer. Was wusste diese dumme Kuh schon von Kummer? Nichts! Aber egal, das tat heute alles nichts zur Sache. Denn: Heute! Wird! Gefeiert!
Nur wie?
Blitzschnell scannte sie die nächste und nähere Umgebung nach verfügbaren Ersatz-Sittern ab. Die Recherche ergab vier mögliche Kandidaten:
– erstens den Computer-Heini von nebenan. Vorteil: immer zu Hause. Nachteil: noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Außerdem sicher keinerlei Erfahrung mit Kindern;
– zweitens die Nachbarin von oben. Vorteil: immer zu Hause, weil selbst Kinder. Nachteil: selbst Kinder, die jetzt gerade in ihren Betten liegen;
– drittens die alte Dame aus dem ersten Stock. Vorteil: man hat was gut bei ihr, weil man ihr neulich die Einkaufstasche hochgetragen hat. Nachteil: schon ziemlich alt. Vielleicht durch eine derartige Spontanaktion überfordert;
– viertens die kinderlose Arbeitskollegin, zwei Straßen weiter. Vorteil: hatte schon mal angeboten, dass sie auf die Kinder aufpassen würde. Nachteil: war vielleicht nicht ernst gemeint gewesen.
Bei Nr. 4 geht keiner ran. War ja klar, an einem Samstagabend. In der Reihenfolge 2, 3, 1 klingelt sie bei den ausgewählten Nachbarn. Allen erzählt sie in einem sehr ernsten, sehr betroffenen, sehr Mitleid heischenden Tonfall, dass sie heute Abend einen absolut total wichtigen inoffiziellen Business-Termin hat, zu dem sie unbedingt hinmuss, da sich ein Fehlen auf die ohnehin katastrophale berufliche, finanzielle, private etc. Situation noch katastrophaler auswirken würde. Um die Glaubwürdigkeit der Geschichte auch optisch zu stützen, hat sie vorher ein dunkles Jackett über das tief ausgeschnittene Spaghettiträger-Oberteil gezogen. »Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich bin da in eine sehr missliche Lage geraten … und jetzt das … ich weiß einfach nicht, was ich machen soll …«
Die effektvoll gesetzten Pausen und die dramatisch zitternde Stimme, die das zum Pathos neigende Familienoberhaupt der schauspielerisch begabten Kleinstfamilie perfekt beherrscht, erweichen die Herzen ihrer Zuhörer derart, dass sie 25 Minuten Zeit verliert, weil die netten Nachbarn umgehend ihre tiefes Beileid ausdrücken. Um dann umständlich und langatmig fadenscheinige Gründe für ihre Absagen vorzubringen. Allein Nr. 2 deutet an, dass sie, wenn es gar keine andere Lösung gäbe, vorschlüge, die Kinder doch samt Kissen, Decken und Kuscheltieren für ein, zwei Stunden hochzubringen. Das Angebot ist nett gemeint, hilft ihr aber trotzdem nicht weiter. Denn ein, zwei Stunden reichen leider nicht, um sich mal wieder richtig schmutzig zu amüsieren.
Zurück in den eigenen vier Wänden zerdrückt sie jetzt doch ein paar Wuttränen und schmeißt das Sektglas an die Wand – natürlich nicht, ohne es vorher leer getrunken zu haben und hinterher gleich ängstlich ins Kinderzimmer zu eilen und sich zu vergewissern, dass die Kinder vom Klirren nicht aufgewacht sind. Dann ruft sie ihren Bruder an, der vierzig Kilometer weit weg in einem Studentenwohnheim sitzt und dort Tag und Nacht für irgendein Staatsexamen lernt.
»Du musst mich retten. Das wird Die Party. Ich will da unbedingt hin. Ich drehe sonst durch. Kannst du bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte auf die Kinder aufpassen?«
Wenn einen das Leben als Alleinerziehende überhaupt irgendetwas lehrt, dann das Anbetteln und Aufdrängen jenseits aller Peinlichkeitsgrenzen. Jedenfalls verspricht sie dem Bruder vollmundig ihren Modeschmuck, das Tafelsilber und ihren Anteil am elterlichen Erbe. Und natürlich ewige Dankbarkeit, Fahrgeld, ein deftiges Frühstück und ein Blind Date mit ihrer dünnsten Busenfreundin. Was genau davon ihn letztlich überzeugt, bleibt unklar, aber nach einer Weile lässt er sich tatsächlich überreden, zur nächsten Regional-Express-Haltestelle zu sprinten und loszufahren.
Knapp neunzig Minuten später ist der Bruder da und das Taxi wird auch gleich kommen. Die
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