Wir sind Heldinnen: Aus dem unglaublichen Leben der Alleinerziehenden (German Edition)
einem letzten Blick in den Spiegel selbstzufrieden wie selten und voller Tatendrang auf den Babysitter gewartet.
Mitten in die kühnen Fantasien hinein, was dieser Abend wohl alles bringen wird, klingelt das Telefon: die Nachbarstochter. Heulend. Sie könne heute nicht, schluchz, was Privates, schluchz, was Schlimmes. Oje, o Gott, ist jemandem was passiert, jemand krank, jemand gestorben? Nein, nein, schluchz, nur der Freund habe gerade mit ihr Schluss gemacht, und das sei so schrecklich, da könne sie heute unmöglich …
Es ist 22 Uhr und es ist amtlich: Sie hat keine Kinderbetreuung mehr. In einer Viertelstunde steht die beste Freundin vor der Tür, um sie einzusammeln für diese Party, die jetzt – wo die eigene Teilnahme auf einmal mehr als ungewiss ist – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Jahrtausendparty wird. Die Jahrtausendparty, die sie sich so hart erarbeitet, die sie so bitter nötig, die niemand mehr verdient hat als sie selbst. Die Party, bei der sie tanzen, lachen, rauchen und trinken wollte bis zum Morgengrauen. Eigentlich müsste das vernünftige Oberhaupt der schlafenden Kleinstfamilie jetzt aufgeben. Realistisch sein. Einsichtig. Erwachsen. Alle Fakten sprechen dagegen, dass sie heute Abend ausgehen wird. Einen gutmütigen Ersatzaufpasser wird sie auf die Schnelle kaum finden – ungefähr alle Menschen, die sie auf dieser Welt kennt, sitzen gerade kichernd in Autos eingepfercht und halten die Augen nach viel versprechenden Lichtern am Wegesrand offen. Alleine lassen kann man die Kinder nicht, Omi und Opi schlafen schon seit einer halben Stunde und spontanes Übernachten bei Kindergartenfreunden fällt zu dieser Uhrzeit ebenfalls aus.
Der weitere Verlauf des Abends ist damit eigentlich klar: Sie wird jetzt kurz heulen vor Selbstmitleid. Dann wird sie sich damit zu trösten versuchen, dass sie bei der pubertierenden Nachbarstochter schon immer ein leicht ungutes Gefühl gehabt hat. Die ist doch selbst fast noch ein Kind. Wer weiß, was die bei einem wirklichen Notfall gemacht hätte? Und ob sie die Kleine, die nachts ja doch ab und zu noch aufwacht, hätte beruhigen können? Da ist schon besser, sie bleibt selbst zu Hause. Und deshalb wird sie jetzt auch gleich zum Hörer greifen, die Mitfahrgelegenheit anrufen und absagen. Dabei wird sie deren leicht vorwurfsvolles »Das ist ja jetzt echt blöd, kannst du nicht doch jemand anderen organisieren?« kommentarlos übergehen, denn was wissen kinder- und herzlose Menschen schon von der Verantwortung und den Prioritäten einer Mutter. Dann wird sie die schicken Sachen aus- und den zweiteiligen alten Flanell-Pyjama anziehen, sich wie jeden Abend zu den schlafenden Kindern legen, ihnen im Schaf zärtlich über die blonden Locken streichen, heimlich ein paar gemeine Gedanken über ihren Vater denken, sich noch eine Weile in dem bittersüßen Gefühl suhlen, den geliebten Kindern die besten Jahre zu opfern, und schließlich mit einem strengen Zug um den Mund einschlafen.
Während sich dieses Szenario blitzschnell vor ihrem mit Lidschatten!, Lidstrich!, Wimperntusche! geschminkten Auge abspielte, passierte es. Die Wolken des Trübsinns schoben sich zur Seite, der Himmel riss auf und der Lichtstrahl einer fernen Diskokugel erhellte ihr gequältes Antlitz. Im Strahl des funkelnden Lichts erkannte sie zwei Dinge überdeutlich. Erstens: Sie hatte das Augenbrauenzupfen diesmal wirklich nahezu perfekt hingekriegt. Obwohl sie ja völlig aus der Übung war. Zweitens: Das hier war nicht einfach nur Pech oder Zufall. Nein, das hier war eine Prüfung. Ganz offensichtlich befand sie sich hier und jetzt an einer jener schicksalhaften Weggabelungen. Ihr Leben könnte an diesem Abend diese oder jene Wendung nehmen. Diese Wendung war so weit klar: missmutig ins Bett gehen, sich langweilen und bedauern. Jene Wendung lag da draußen im Dunkeln, sorglos, glitzernd, viel sprechend. Diese Wendung wäre auf jeden Fall vernünftiger und gesünder; jene Wendung lockte dagegen mit Drogenrausch und Augenringen. Die Prüfung, die die Göttin der Partyluder heute für sie bereithielt, bestand darin, vom richtigen Weg abzukommen. Einmal dem Leben auf der Nase herumzutanzen, nicht umgekehrt.
Sie nahm die Herausforderung an. Die Entscheidung für Lust und Laster und gegen den Schlafanzug war gefallen. Sie würde diesen stöckelbeschuhten Fuß samt samtroten Fußnägeln, auf die gerade beinahe die ersten selbstmitleidigen Tränchen hinabgetropft wären, heute Abend
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