Wir sind nur Menschen
Angela wollte widersprechen, aber der Professor wischte durch die Luft, ihr jedes weitere Wort abschneidend.
»Frau Dr. Bender – ich dulde an meiner Klinik keine Widerrede. Das sollten Sie wissen.« Er blickte auf die Armbanduhr. »In einer halben Stunde ist Visite. Halten Sie sich bitte bereit. Ich zeige Ihnen die ernsteren Fälle und spreche sie mit Ihnen durch. Danke!« Er nickte. Angela war entlassen.
Auf dem Flur stampfte sie mit dem Fuß auf. Gegen diesen Mann kam sie nicht an. Sie wollte die Erlaubnis erwirken, im Labor mitzuarbeiten, um sich langsam in die Materie der Toxikologie hineinzufinden. Der bloße Klinikdienst war nicht nach ihrem Sinn, und wenn Professor Purr ihn ihr befahl, so nur, weil er ihre Nerven weiterhin schonen wollte.
Es war knapp einen Monat später, an einem Freitag, als ein Schicksalstag für Angela anbrach.
Sie kam aus der Universitätsbibliothek und wollte zurück in die Klinik, als ihr auf dem Gang eine lange, weißgekleidete dürre Gestalt begegnete. Der Mann stutzte erst einen Augenblick lang, dann zupfte er sich an der langen Nase und kam mit raschen Schritten näher. »Is det denn wahr?« rief er laut. »Det Frollein Bender!« Er stockte. »Oder – ick weeß et nich – sin Se jetzt Doktor?«
»Allerdings, Benischek!« Angela lachte und drückte dem langen Mann herzlich die Hand. »Und Sie sind immer noch hier als Laboratoriumsdiener?«
»Ja. Ick kann mir nich umjewöhnen. Meine Meerschweinchen und de Kaninchen … ick habe an ihnen sozusajen Vaterpflichten übernommen!« Er schüttelte den Kopf, als könne er dieses Wiedersehen nicht begreifen. »Un Sie? Wat wollen Sie denn hier?«
»Ich bin Assistentin bei Professor Purr!«
»Ach Jott! Beim Brausepulverkopp!« Er lachte schallend. »Na denn prost!« Er beugte sich über Angela und lächelte. »Det war noch ne Zeit, wat? Als Sie im Labor standen und weiße Mäuse mit de Masern und de Pocken impften! Wat haben wir da über den ollen Purr jelacht! Wenn er in'n Kolleg kam und sagte: ›Meine Damen und Herren, ich weiß, daß Sie doch nichts begreifen werden, aber trotzdem will ich Ihnen vorlesen!‹ Herrjott, det waren Zeiten …«
Benischek war einer von jenen Menschen, die ihr ganzes Leben hindurch mit anderen in einer engen Freundschaft stehen. Wen er einmal in sein Herz geschlossen hatte, für den verstand er es, das Unmöglichste möglich zu machen, und sein primitiver Verstand sagte ihm, daß das Wohlgefallen, das er damit für sich gewann, der Inbegriff seines Daseins war. Angela Bender gehörte seit ihrer Famula-Zeit zu den erklärten Lieblingen des Labordieners, und es bedurfte nur eines leise ausgesprochenen Wunsches, um auf die Erfüllung gleich warten zu können.
Das alles fiel Angela ein, als sie sich mit Benischek unterhielt und in alten Zeiten kramte. Die plötzliche Erkenntnis, hier einen Mann vor sich zu haben, der für sie aus der Anatomie ein Skelett stehlen würde, verband sie sofort mit der Nützlichkeit dieser Freundschaft. Plötzlich sah sie einen Weg, der aus der Enge führte, die ihr Professor Purr auferlegt hatte. Ein Weg – zunächst ins Dunkle –, aber doch nur ein Durchschreiten des Heimlichen zu einem großen, leuchtenden Ziel. »Benischek«, sagte Angela und hakte den Riesen unter. »Wir waren doch immer Freunde, nicht wahr?«
»Det will ick meinen, Frollein Doktor«, grinste er.
»Und ich habe nun einen großen Wunsch.«
»Heraus damit!«
»Sie sollen Überstunden machen.«
»Wat soll ick?« Benischek glotzte sie dumm an. »Ick habe woll 'nen Jehörfehler? Überstunden?«
»Ja, bei mir, Benischek.«
»Och Sie!« Der alte Mann wurde sichtlich verlegen. »Sie bringen 'nen ollen Krüppel noch zum Rotwerden. Det is doch nich Ihr Ernst?«
»Aber ja.« Angela lachte. »Ich möchte in den Labors arbeiten. Des Nachts, verstehen Sie, Benischek – heimlich!«
»Heimlich? Aber warum denn?«
»Ich bin einem geheimen Mittel auf der Spur. Das Leben von vielen kranken Menschen hängt an diesem Serum! Ich muß es finden, Benischek! Der alte Purr würde mir nie die Erlaubnis geben, in den Labors zu arbeiten. Er will das nicht. Ich aber muß das Mittel finden!«
Die Tatsache, daß Professor Purr, der ›Brausepulverkopp‹, Angela nicht das Experimentieren erlaubte, war entscheidend für Benischeks Zusage. Er nickte verständnisvoll und beugte sich zu Angela.
»Wann soll et denn losjehn?« fragte er.
»Morgen abend. Ist's recht?«
»Ick kann immer.« Benischek winkte ab. »Ich schlafe
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