Wir sind nur Menschen
doch bei meine Kaninchen.« Er sah Angela groß an. »Ist's auch wirklich een jutes Heilmittel?« fragte er, sich gleichsam sichernd.
»Auf mein Ehrenwort, Benischek.« Angela gab ihm die Hand. Sein Druck sagte ihr, daß sie die erste Etappe gewonnen hatte. Am nächsten Abend, nach dem gewöhnlichen Klinikdienst, packte sie ihren weißen Kittel in eine Aktentasche und schlich sich durch den Krankenhausgarten und ein Pförtchen hinaus auf die Straße. Wenige Straßen weiter lagen die Laboratorien der Universität, von außen unscheinbare Bauten, hinter deren Mauern keiner die große Wissenschaft vermutete, die dort in Retorten und Kolben kochte und siedete.
Friedrich Benischek, von allen nur ›Fritze‹ genannt, wartete schon an der Tür und schob Angela schnell in den dunklen Flur. Dann schloß er sorgfältig hinter sich ab und klapperte mit den Schlüsseln. Das tat er schon zwanzig Jahre lang. Der Klang der aneinanderschlagenden Schlüssel gab ihm stets aufs neue das Gefühl, ein kleiner Herrgott zu sein, ohne dessen Erlaubnis niemand die weiten, weißen, gekachelten Räume betreten durfte – sein Allerheiligstes!
Von diesem Tag ab kannte Angela Bender keine ruhige Minute mehr. In der Klinik hatte sie ihre Visiten und Verbände zu machen, zu Hause wartete der kleine Peter auf sie. Sie spielte mit ihm, gab ihm seinen Brei und erholte sich für ein oder zwei Stunden an Peters Lachen und an häuslichen Verrichtungen. Danach saß sie wieder am Schreibtisch und studierte die toxikologischen Schriften, während ein Kindermädchen den Kleinen versorgte, sie sah wieder ihre einzelnen Versuche durch und suchte nach neuen Wegen. Wenn der Abend kam, ging sie zu Benischek und saß die halbe Nacht vor den Brutöfen, Nährböden, Reagenzgläsern und Mikroskopen, impfte Mäuse mit Tropengiften und behandelte die sterbenden Tiere mit einem Blutserum.
Sie kannte keine Zeit mehr. Der Kreislauf ihres Lebens wurde immer enger. Manchmal wunderte sie sich, daß sie an einem Tisch saß und aß. Es kam ihr wie ein Frevel vor, an einem weißgedeckten Tisch zu sitzen und Butterbrot mit Schinken zu essen, während in den Urwäldern Peter von Wurzeln und Tapiokabrot lebte und sich mit den gelähmten Beinen auf Krücken über die ausgehauenen Wege schleppte. Dann kam es vor, daß sie plötzlich aufsprang, den Teller von sich schob und hinüberlief ins Laboratorium, wo Fritz Benischek vor seinen Käfigen saß und Abschied nahm von den vierbeinigen Lieblingen, die zum Versuch an diesem Abend von ihm selbst ausgesucht worden waren.
Und von neuem saß sie, gebeugt über das Mikroskop, an den langen Tischen, umgeben von Glaskolben, Retorten und siedenden Tiegeln. Säuredämpfe wallten durch den Raum, in Porzellangefäßen zischten feindliche Elemente aufeinander … Zeit und Raum und Wirklichkeit versanken um sie herum – es blieb nur das kleine, runde, helle Sichtfeld im Okular des Mikroskops übrig. Ein heller Fleck, belebt mit Kristallen, Viren, Bazillen und wunderlich geformten Gebilden unerbittlicher Vernichtung. Gift!
Die Versuchsreihen gingen voran. Nach drei Wochen nervenaufreibender Arbeit war Angela Bender endlich so weit vorgedrungen, daß sie die Giftstoffe in winzigsten Mengen von allen anderen Substanzen lösen konnte. Sie hob das nackte, das reine Gift aus dem verseuchten Blut heraus. Welch ein Gefühl, dachte sie, unmittelbar dem Tod gegenüberzustehen! Da hält man eine Schüssel in der Hand, eine kleine runde Porzellanschüssel. In ihr eine schwachgelbe Flüssigkeit, nur wenig, vielleicht knappe dreißig Kubikzentimeter. Der Boden der Schüssel ist knapp bedeckt. Und man sieht diese Flüssigkeit an und denkt, es sei schmutziges Regenwasser. Und weiß, daß diese geringe Menge genügen würde, zehntausend Menschen qualvoll sterben zu lassen. Sterben unter entsetzlichen Schmerzen, rettungslos verloren … Zehntausend Menschen, eine kleine Stadt, hingemetzelt durch ein wenig schmutziges Wasser auf dem Boden einer kleinen Porzellanschüssel.
Dr. Bender wischte sich über die Augen. Der Morgen graute schon vor den heruntergelassenen Rollos. Wieder war eine Nacht vorüber, eine Nacht mit dem Blick auf die kreisrunden Flecken im Okular. Stunden des Wartens, des Beobachtens, des Staunens, der Verbissenheit, des Triumphes, aber auch des Fehlschlagens! Eine Nacht im Zwiegespräch mit dem Tod. Es war eine erschütternd einseitige Unterhaltung – sie fragte ihn, und er … schwieg!
›Fritze‹ lag auf einem Sofa in der Ecke und
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