Wir sind verbannt (German Edition)
dass es nicht aufhörte und dass ich nicht schlafen konnte, und er nickte und antwortete, es sei noch zu früh, um etwas zu sagen, und dass er mir am nächsten Morgen ein bisschen Blut abnehmen wolle, damit wir sichergehen könnten. Dann ging er hinaus und kam mit einem Glas Wasser und einer Tablette zurück, die mir helfen sollte zu schlafen. Als ich aufstand, um beides entgegenzunehmen, stellte er das Glas auf dem Schreibtisch ab, legte die Tablette daneben und nahm mich fest in den Arm.
Das war nicht gerade besonders sicher, aber in diesem Moment war es mir egal. Ich erwiderte seine Umarmung, bis das Jucken so schlimm wurde, dass ich einen Schritt zurücktreten musste, um mich zu kratzen.
Und dabei kam ich mir die ganze Zeit schrecklich vernünftig und erwachsen vor. Irgendwie dachte ich wahrscheinlich, wenn ich ruhig und besonnen bliebe, würde es wieder weggehen.
Doch heute Morgen, kurz nachdem Dad ins Krankenhaus gefahren war, begann es in meinem Hals zu kratzen. Ich musste Drew durch die Tür zurufen, er sollte mir noch ein Glas Wasser bringen, das ich ihn draußen abstellen ließ und erst, als er fort war, hereinholte. Das ist jetzt eine halbe Stunde her, und ich huste immer noch ab und zu.
Was zum Teufel sollte es sonst sein? Ich habe das Virus.
Ich darf nicht mehr mit Meredith, Drew oder sonstwem, außer Dad, zusammen sein.
Ich sitze in diesem kleinen Zimmer fest, bis ich so krank werde, dass Dad mich wegschaffen muss.
Das Virus wird sich in mein Hirn fressen, bis ich keine Kontrolle mehr darüber habe, was ich sage oder denke, bis ich alle möglichen schrecklichen Sachen daherrede, so wie Rachels Dad oder wie Mom, bis ich Leute anschreie, die gar nicht da sind. Und ich werde noch nicht mal merken, wie übergeschnappt ich bin. Gott. Ich muss
Leo, falls du das hier jemals liest, wenn du zurückgekommen bist und versuchst rauszukriegen, was passiert ist, dann verbrenne dieses Tagebuch. Verbrenne es auf der Stelle. Ich habe gerade draufgehustet, und mein Atem ist darauf gelandet, und das Virus kriecht jetzt auf jede einzelne Seite.
Mir wird sowieso keine Zeit mehr bleiben, noch viel mehr zu schreiben.
24. Oktober
Kennst du das, wenn Leute in Büchern oder Filmen auf dem Sterbebett ihre letzte Beichte ablegen? Sie begreifen, dass sie bald gehen müssen, und wollen unbedingt ihre lang gehüteten Geheimnisse loswerden, solange sie noch können.
Ich habe auch darüber nachgedacht, ich hab ja sowieso nicht allzu viel anderes zu tun, als nachzudenken – und zu husten und zu niesen und zu versuchen, diese oder jene Stelle nicht zu sehr zu kratzen. Dad hat angeboten, mir Gesellschaft zu leisten, so wie er es bei Mom getan hat. Er hat vorgeschlagen, wir könnten Karten spielen oder so. Doch jedes Mal, wenn ich ihm in die Augen schaue, sehe ich sein Herz brechen, ganz egal, welchen Blick er gerade aufsetzt. Und dann muss ich daran denken, was mit mir passieren wird, und das bricht dann auch mir das Herz. Ich weiß genau, dass er lieber bei Mom im Krankenhaus wäre und noch weiter forschen und eine Menge andere wichtigere Dinge tun möchte, als Karten zu spielen. Deshalb habe ich ihm gesagt, dass ich gern für mich wäre, und er lässt mich auch die meiste Zeit allein.
Immerhin helfen seine Medikamente, das Fieber unten zu halten. Und er muss mir auch etwas zur Beruhigung gegeben haben. Mir ist ein bisschen schwummrig. So als wäre ich nicht ganz da.
Aber, um noch mal zur Sache zu kommen, ich habe überlegt, ob es irgendwas gibt, was ich Dad oder Drew oder Meredith noch sagen sollte, bevor ich keine Kontrolle mehr darüber habe, was ich so von mir gebe. Aber es gibt nichts. Nicht etwa, dass ich mein Leben lang hundertprozentig ehrlich zu ihnen gewesen wäre, doch ich habe nie etwas wirklich Bedeutendes vor ihnen verborgen.
Das einzige richtige Geheimnis, das ich bis heute habe, hat mit dir zu tun, Leo. Ich hab es inzwischen schon so lange gehütet, und ich wollte es eigentlich auch nicht aufschreiben. Aber vielleicht werde ich später keine Gelegenheit mehr dazu haben.
Es passierte in dem Sommer, als ich vierzehn wurde, noch bevor ich in Toronto auf die Highschool kam, noch bevor wir unseren Streit hatten und aufhörten, miteinander zu sprechen. Dad, Mom, Drew und ich waren eine Woche lang auf der Insel zu Besuch, wie jeden Juli, seit wir weggezogen waren. Am letzten Tag unserer Reise kamst du vorbei, und wir gingen zusammen runter zum West Beach, aßen selbstgemachtes Blaubeereis aus dem Laden der
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