Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
hinter dem Küchenschrank, das sie eigenhändig ausgehöhlt hatte. Die Wohnung war mittlerweile renoviert und die Küche gefliest worden; längst wohnten neue Mieter darin.
Vielleicht ist an der Behauptung der Freundin gar nichts dran. Vielleicht haben auch die Handwerker die Schmuckstücke gefunden und mitgenommen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass sie noch immer unter der neu gefliesten Wand liegen. Es fällt der Nachlasspflegerin nicht leicht über diese Geschichte hinwegzukommen. Schließlich hat sie den Ruf, alles, was es zu entdecken gibt, auch zu entdecken. »Es grämt mich«, sagt sie, »dass ich dieses Bauchgefühl hatte, aber dennoch nichts finden konnte. Das ist mir noch nie passiert.«
Es wird, so hofft sie, auch nicht wieder vorkommen: Seit diesem Erlebnis klopft sie alle Wände ab, wenn sie eine Wohnung inspiziert.
KAPITEL 6
Vielsagender Besitz – was Dinge über ihre Besitzer verraten
I m September 1960 machte sich der Schriftsteller John Steinbeck zusammen mit seinem Pudel Charley zu einer ausgedehnten Rundreise durch die Vereinigten Staaten auf. Herrchen und Hund fuhren drei Monate lang in einem speziell konstruierten Pick-up-Truck kreuz und quer durch das Land, um das »wahre Amerika« zu entdecken. Die Erlebnisse dieser Reise brachte der Autor später in dem Buch Die Reise mit Charley zu Papier. Dort kann man auch über seine Erfahrungen in einem Hotelzimmer in Chicago lesen.
Um sich von den Anstrengungen der Reise zu erholen und seine Frau zu treffen, legte Steinbeck eine Pause in der Metropole am Lake Michigan ein. Weil er zu früh ankam, war das für ihn reservierte Zimmer noch nicht fertig. Steinbeck bat darum, in einem anderen Zimmer warten zu können. Das Hotel war gerne bereit, ihm diesen Wunsch zu erfüllen und stellte ihm einen Raum zur Verfügung, dessen Bewohner bereits früh morgens abgereist war. Das einzige Problem: Das Zimmermädchen hatte noch keine Zeit gehabt aufzuräumen. Dem müden und von der Reise staubigen Literaten war das egal, und er machte es sich in dem Zimmer bequem.
Während er sich auszog, um ein Bad zu nehmen, fielen ihm plötzlich Spuren auf, die der vorherige Besucher – von Steinbeck »Lonesome Harry« getauft – zurückgelassen hatte: ein paar Reinigungsquittungen, eine leere Flasche Bourbon, einen unvollendeten Brief, Zigarettenkippen, Verpackungsreste von Magen- und Kopfschmerztabletten. Mit Hilfe dieser Funde begann er sich vorzustellen, was für ein Mensch dieser ihm unbekannte Mann wohl war. In Die Reise mit Charley schreibt er dazu: »Ein Tier, das irgendwo gelagert hat oder durchgezogen ist, hinterlässt geknickte Grashalme, Fußspuren und vielleicht Losung, aber ein Mensch, der sich eine Nacht in einem Zimmer aufgehalten hat, drückt ihm seinen Charakater, seine Biographie, seine jüngere Geschiche und manchmal auch seine Zukunftspläne und Hoffnungen auf. Ich glaube auch, dass die Persönlichkeit eines Menschen irgendwie in die Wände einsickert und sich nur langsam wieder aus ihnen löst. Ich saß also in diesem ungemachten Zimmer, und langsam nahm Lonesome Harry Gestalt und Profil an. Ich konnte diesen vor kurzem abgereisten Gast in den Spuren und Resten, die er hinterlassen hatte, fast körperlich spüren.«
Viele Literaten folgen der Intuition, dass die Habseligkeiten eines Menschen etwas über seine Gefühls- und Gedankenwelt verraten. Die literarische Richtung des sogenannten Chosism basiert sogar ganz auf dieser Idee: In Romanen wie Les Choses (dt. Die Dinge ) werden die agierenden Personen fast ausschließlich in Form ihrer Besitztümer porträtiert. Indem der Autor schildert, welche Sachen die Protagonisten anschaffen, was sie über ihre Habseligkeiten denken und wie sie sie benutzen, offenbart er ihre Persönlichkeit.
In der Welt der Alterskunde und Kriminologie werden Besitztümer ebenfalls als Symbol für das Selbst des Besitzers angesehen. Nur so ist zu erklären, dass Archäologen aus Grabfunden Schlüsse über die Person des Begrabenen ziehen und Polizeidetektive versuchen, die Identität eines unbekannten Toten aus seinen Sachen zu rekonstruieren. Im Mai 1942 etablierte die Vorgängerorganisation der CIA ein Programm, um geeignete Kandidaten für die Spionage im Feindeslager zu identifizieren. Es wurden spezielle Tests entwickelt, darunter der sogenannte Habseligkeitentest. Allein auf der Basis von ein paar Sachen, die man angeblich im Schlafzimmer einer Person gefunden hatte, Kleidungsstücke, Fahrpläne, Kassenbelege,
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