Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
Besitz an ihren Neffen mit der Auflage: Das Gebäude müsse weiter als Lichtspielhaus genutzt werden. Angesichts der Konkurrenz durch moderne Filmpaläste und Multiplexkinos, die es auch in Oberbayern reichlich gibt, kann man sich leicht vorstellen, wie schwierig es ist, diese Bedingung zu erfüllen.
Wie Hinterbliebene mit den Sachen von Verstorbenen umgehen
Es ist mir nicht bekannt, was der mit dem Kino »beglückte« Neffe heute über die Erbschaft denkt. In vielen Fällen aber hängen Hinterbliebene sehr an Geschenken und Erbstücken von Verstorbenen, wie wissenschaftliche Studien zeigen. Oft erhalten selbst banale Besitzstücke eines Toten eine ganz neue und tiefe Dimension. Das habe ich selbst erlebt. Nach dem Tod meines Vaters erkor ich seinen abgenutzten ledernen Notizblock zu meinem persönlichen Schatz. Wenn ich das Büchlein heute betrachte, kann ich ihn immer noch in seiner ruhigen und nachdenklichen Art darin schreiben sehen. Für andere ist es vielleicht eine Lesebrille, die an die Bücherliebe eines Bruders erinnert, oder eine alte Gartenschere, die für die Naturleidenschaft der toten Großmutter steht. In Form ihrer Besitztümer bleiben Menschen nach ihrem Ableben auf gewisse Weise weiter lebendig. »Indem Hinterbliebene alltägliche Dinge neu interpretieren«, schreibt der Soziologe David Unruh von der Universität von Kalifornien, Los Angeles, »versuchen sie die Identitäten von Verstorbenen zu erhalten – und sogar neu zu kreieren.«
Diese Re-Interpretation kann extreme Züge annehmen. Manche Hinterbliebene benutzen Dinge als Personifizierung des abwesenden Menschen. Das heißt, sie behandeln ein Foto, Buch oder Kleidungsstück des Toten, als wäre es der Tote selbst: Sie sprechen mit ihm und nehmen es ins Bett oder auf Reisen mit. Manchmal betrachten Trauernde Dinge, die der Verstorbene berührt, benutzt oder selbst gemacht hat, auch als heilige Objekte und beten sie förmlich an. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel entdeckte ich bei meiner Recherche zu einer Biografie über Joseph Schumpeter. Der österreichisch-amerikanische Ökonom, der seine junge Frau unter tragischen Umständen verlor, entwickelte eine merkwürdige Obsession für ihre handschriftlichen Aufzeichnungen. Kurz nach dem Tot von Annie fing er in seiner Trauer und Verzweiflung an, ihr Tagebuch und ihre Briefe an ihn immer und immer wieder abzuschreiben. Täglich kopierte er bestimmte Abschnitte nach einem ausgeklügelten System und schrieb sie in speziell dafür bestimmte Bücher. Bis zu seinem eigenen Tod zweieinhalb Jahrzehnte später füllte er so mehr als ein Dutzend Kladden, die heute noch im Archiv der Harvard-Universität liegen, wo ich sie mir ansehen konnte.
Eltern, die die Zimmer ihrer toten Kinder über Jahre unverändert lassen, Fans von verblichenen Stars, die noch nach Jahrzehnten hohe Summen für von ihren Idolen getragene Kleidungsstücke oder andere Devotionalien bezahlen – die Besitztümer von Verstorbenen können die Nachwelt lange und auf ganz vielfältige Weise beschäftigen. Auf der anderen Seite gibt es Fälle, in denen Angehörige die Sachen eines Toten überraschend schnell entsorgen. Dies scheint vor allem für Kleidung zu gelten. In meinem Bekanntenkreis habe ich es mehrfach erlebt, dass eine Witwe oder ein Witwer den Kleiderschrank des verstorbenen Ehepartners sehr zügig leerte, manchmal nur wenige Tage nach dem Todesfall. Es ist wohl die taktile Erinnerung an den geliebten Partner, wenn man die Klamotten berührt, und sein Geruch, der noch in Pullovern und Blusen hängt, die in der Trauerphase zu schwer zu ertragen sind.
Auch Müller-Mamerow wird von den Besitztümern einer Verstorbenen verfolgt, allerdings auf ganz andere Weise. Es handelt sich um den Schmuck einer alten Dame. Die Colliers und Ringe hat die Nachlasspflegerin nie selbst gesehen. Die Frau war in ihrer Wohnung verstorben und Müller-Mamerow hatte die Räume danach sorgfältig durchsucht. Es gab Hinweise darauf, dass die Frau von ihrem verstorbenen Gatten wertvollen Schmuck geschenkt bekommen hatte. Ihre Intuition sagte Müller-Mamerow, das Geschmeide müsse irgendwo in der Wohnung sein. Dreimal ging sie alle Räume akribisch durch, während der Vermieter ungeduldig auf die Freigabe der Wohnung drängte. Sie konnte aber nichts finden. Ein Jahr verstrich. Da meldete sich plötzlich eine gute Freundin der alten Dame und behauptete, sie wisse, wo diese ihren Schmuck versteckt gehalten hatte: in einem geheimen Loch in der Wand
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