Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
sollten die Kandidaten ein Profil dieses Fremden entwickeln.
Auch Nachlassverwalterin Müller-Mamerow ist überzeugt, dass sie aus Besitztümern schließen kann, was für ein Mensch der Eigentümer war. Kindheitserinnerungen, Ängste, psychische Erkrankungen, politische Überzeugungen, Beziehungen zu Mitmenschen, sexuelle Vorlieben, Wünsche und Träume – das alles, sagt sie, könne sie aus den zurückgelassenen Dingen erkennen: »Wenn ich nach einem Leichenfund eine Wohnung untersuche, weiß ich am Ende oft mehr über die verstorbene Person als die Angehörigen, obwohl ich den Bewohner nie im Leben gesehen habe. Dies wird mir von Familienangehörigen immer wieder bestätigt.«
Es ist eine gleichzeitig faszinierende und beängstigende Vorstellung: Durch die Sachen, die wir um uns versammeln, teilen wir unserer Umgebung mit, wer wir sind. In Zeichentrickfilmen werden Gegenstände oft als lebende Wesen dargestellt, die sich bewegen und reden können. Einem Bett wachsen nachts Arme und Beine, so dass es seinem Besitzer Streiche spielen kann; ein Kühlschrank beschwert sich lautstark über die Unordnung in seinem Innern. Vielleicht haben diese Kinderfilme ja Recht. Vielleicht können Betten und Kühlschränke und andere Dinge ihre Besitzer vorführen und verraten. Nicht auf lärmende oder gar aggressive Weise, wie es die Comics suggerieren, sondern ganz subtil, indem sie der Umgebung Auskunft über die persönlichen Seiten des Eigentümers geben.
Sage mir, mit welchen Dingen du dich umgibst, und ich sage dir, wer du bist
Wenn sich jemand mit den Botschaften von Sachen auskennt, dann ist es der bereits in Kapitel 4 erwähnte Sam Gosling. In England geboren, lehrt der Psychologe heute an der Universität von Texas. Sein Spezialgebiet ist die Snoopology , wie er es selbst nennt, was man mit Schnüffelkunde übersetzen könnte. ( To snoop heißt im Englischen so viel wie spionieren oder herumstöbern.) Seit dem Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere vor rund 15 Jahren erforscht Gosling, was unsere Sachen über unsere Persönlichkeit aussagen und inwieweit andere diese Botschaften verstehen können. Gemeinsam mit seinen Studenten hat er alle möglichen Aspekte dieser Fragestellung untersucht: Sie spähten unter Betten und blickten in Schränke; sie gingen Musiksammlungen durch, inspizierten Poster; sie besuchten Studentenbuden und schauten sich die Schreibtische in Bürogebäuden an. Sie analysierten sogar den Aussagewert von immateriellen »Besitztümern« wie den Handschlag, ein Facebook-Profil oder eine selbstgewählte E-Mail-Adresse.
Mit seinen Arbeiten hat Gosling Aufmerksamkeit erregt. Die amerikanische Presse stellte seine Forschung in zahlreichen Artikeln vor; er trat in Radiosendungen und Fernsehshows auf. Sein 2008 veröffentlichtes Buch Snoop wurde vom Wissenschaftsjournal New Scientist zum Buch des Jahres ernannt; ein Kritiker kürte ihn sogar zum »Sherlock Holmes des Krempels«. Schon die ersten Untersuchungen, die er durchführte, als er noch Student an der Universität von Kalifornien in Berkeley war, riefen bei den Medien regelrecht Begeisterung hervor. Er hatte Probanden die Schlafzimmer und Büros ihnen unbekannter Menschen auskundschaften lassen. Die Ergebnisse waren faszinierend. Im Zimmer eines Menschen zu spionieren, so zeigte sich, erlaubt tiefe Einblicke in seine Persönlichkeit.
Der Aufstieg zum Medienliebling hat den Forscher überrascht, wie er in Snoop bekennt. Doch verwunderlich ist das öffentliche Interesse eigentlich nicht. Wer hat sich nicht schon einmal gefragt, was der Palmenwald oder die ausgedehnte Sammlung von Überraschungsei-Figuren im Büro der Kollegin über ihre Persönlichkeit aussagt? Wer hat nicht schon mal versucht, den Charakter einer Disko-Bekanntschaft aus seiner Schlafzimmereinrichtung abzulesen oder sich im Badezimmer von Freunden nach enthüllenden Indizien umgesehen? Da kommt ein Psychologe, der diese Zusammenhänge wissenschaftlich untersucht, gerade recht.
Gosling mag einer der bekanntesten Schnüffelkundler sein, der erste ist er nicht. Bereits in den 1940 er und 1950 er Jahren untersuchten Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen den Sachen, die jemand besitzt, und dem, was andere über ihn denken. Sie zeigten beispielsweise, dass man Fremde unterschiedlich einschätzt, je nachdem, welche Kleidung sie tragen oder ob sie ein bestimmtes Auto fahren. Andere legten Testpersonen fiktive Einkaufslisten vor und fragten sie, wie sie sich die Käufer vorstellten.
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