Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
einfach nur traurig. Richtig traurig. Mann tot, Wohnung weg und ...«
»Ich glaube, Lisa habe ich schon einmal gesehen. Sie spielte im Hof und du hast Kränze gebunden. Es sah aus, als würde sie hinken ...«
»Du hast mich heimlich beobachtet?«
»Ja. Ich hatte Sehnsucht nach dir.«
»Du nach mir? Du spinnst doch.«
»Nun tu mal nicht so. Als ob du das nicht wüsstest.«
»Vielleicht höre ich es einfach nur gerne. Verstehst du doch. Oder? Und ja, Lisa hinkt. Sie hat eine Lähmung im rechten Bein und einen verkrüppelten Fuß.«
»So, ihr beiden Turteltäubchen.« Lagusch!
Paul zuckte zusammen. Der Kerl war die Pest.
»Komm mit, Junge. Du musst dir das Fuhrwerk und das Geschirr ansehen. Könnte sein, dass wir es jetzt öfter brauchen.«
Lagusch nahm Paul den Kranz aus der Hand und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich zeige dir dann auch die Werkstatt und den Stapel Brennholz. Du bist wohl doch mehr fürs Grobe.«
Paul fühlte ein warmes Gefühl von Dankbarkeit in sich aufsteigen. Endlich jemand, der sich für seine wirklichen Talente interessierte: Fuhrwerk, Brennholz, Werkzeug.
Am Abend schob Paul Franzis Fahrrad ein Stück weit die Straße hinunter. Sie gingen nebeneinander und Franzi hielt Pauls Hand. Sie küsste ihn flüchtig auf den Mund und fuhr winkend davon. Paul sah ihr lange nach, die Hände tief in den Hosentaschen. Er drehte sich um, kickte einen Stein vom Weg und schlenderte durch das große Tor. Im Büro brannte noch Licht. Tante Rose hockte noch über ihrem Schreibkram. Lagusch schloss die Gärtnerei ab. Paul grüßte und wünschte eine gute Nacht.
Leise schnaubend stand Hennes in der Box, den Kopf tief in der Raufe. Paul lauschte lächelnd dem Rumoren in seiner Kammer, der leisen Radiomusik und stieß sanft die Tür auf.
»Lange nicht gesehen«, sagte er und nahm Franzi in den Arm.
Sie war in einem großzügigen Bogen um die Gärtnerei herumgefahren, wie ein Schatten durch die Brombeerhecke geschlüpft, über den Zaun geklettert und hatte den Spalt in der Rückwand geöffnet.
Paul war glücklich: Seit er in Franzi verliebt war, hatte sein Leben neben all den Verwirrungen etwas Aufregendes und sehr Kostbares. Er würde alles tun, um das zu bewahren. Vielleicht hatte er es noch nie so klar gesehen wie in diesem Augenblick. Er würde nicht aufgeben, wollte nicht mehr zurück in diese zermürbende Einsamkeit. Trotz Opa Tesch.
Alles spielte sich ein. Wenn Bastian, Hotte und die anderen nicht zu Löscheinsätzen notdienstverpflichtet waren, nahmen sie den gleichen Weg über die Wiese wie Franzi. Sie krochen durch den Tunnel im Brombeergestrüpp und durch die Wand. Wenn sie nicht auf Pauls Bett herumlungerten, was sie meistens taten, fütterten sie Hennes oder reparierten das Fuhrwerk. Zwischendurch schalteten sie das Radio ein und suchten die BBC.
Kurz, kurz, kurz, lang. Das klang wie die ersten Töne aus Beethovens Fünfter und das war auch das Morsezeichen für den Buchstaben V. V stand für »Victory«, also Sieg. So begannen die Radiosendungen der BBC für Deutschland. Das wussten sie von Billi. Die bekam in ihrem Krankenhaus so einiges mit. Sie wusste auch, wann die Musiksendungen liefen. Billi mochte Glenn Miller. Bei Chattanooga Choo Choo war sie nicht mehr zu bremsen. Sie tanzte, dass sogar Hennes die Ohren anlegte. Billi trug eine dunkelblaue Bluse ohne Ärmel. Der Rock wirbelte um ihre Beine.
Gebannt lauschten sie aber auch allem anderen, was die BBC sendete.
»Deutsche Hörer, Verderber des Volks waren die Nazis von jeher ...« tönte eine klare Stimme durch Pauls Kammer.
»Hört, hört«, murmelte Ralle, »das ist ja ganz was Neues.«
»Halt doch mal die Klappe«, stöhnte Bastian und sie hörten weiter gebannt zu.
»Jedermann weiß, auch kein Reichswehrgeneral, kein Nazibonze verhehlt es mehr, dass Hitler seinen Krieg verloren hat. Es steht fest und ist für immer erhärtet, dass Deutschland einen Krieg gegen die Welt nicht gewinnen kann. Der überrumpelnde Blitz, auf den es allein dabei rechnen könnte, wird immer misslingen, wie er zweimal misslungen ist ...«
»Da weiß man nicht, ob man sich freuen soll oder weinen«, sagte Franzi. »Immer wenn ich denke, es geht dieser braunen Horde endlich an den Kragen, kommt mir in den Sinn, dass ich dazugehöre. Oder glaubt ihr, die Alliierten machen einen Unterschied zwischen uns und denen mit der Hakenkreuzbinde am Arm? Und wenn wir von einer gewonnenen Schlacht der Alliierten hören, ist es gleichzeitig auch eine verlorene
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