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Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
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Kribbeln im Arm signalisiert mir, dass ich Yolanda im Schlaf in den Armen gehalten habe.
    Dem Licht zufolge ist es Tag, aber in uns regiert weiter die Nacht.
    Etwas erinnert mich daran, dass ich dringend nachdenken muss über das, was passiert ist, um dessen wahre Bedeutung einschätzen zu können. Es war eine wundervolle Nacht – aber eben doch nur eine Nacht voller Sex. Davon hatte ich schon viele. Worin unterscheidet sich diese Nacht also von all den anderen?
    Nach dem ersten Schock über die Trennung von Leticia hatte es Nummer Drei vollauf genügt, sich eine zweite Haut überzustreifen, um sich wie ein Raubtier ohne Hast auf die Jagd zu machen, egal ob in der Nacht oder am Tag, wenn auch immer unter der Prämisse, Bett und Schweiß fast nie zweimal und allerhöchstens dreimal mit jemandem zu teilen.
    Und davor, als wir noch zusammenlebten, selbst als es zwischen Leticia und mir mit allem anderen längst Essig war, war der Sex, den sie später als seelenlos bezeichnete, schön und intensiv gewesen.
    So intensiv wie mit den anderen Frauen, auch wenn diese zu Leticias Zeiten zu meinem Job gehört hatten. Nicht selten führt der kürzeste Weg zu einem »Kunden« nämlich in die Arme seiner Frau, der Geliebten oder der Sekretärin. Als ich mich anfangs einmal über diese spezielle Art der Vorsondierung beklagte, lachte die ehemalige Nummer Drei nur höhnisch auf.
    »Ich an deiner Stelle wäre überglücklich, nur die scharfen Weiber unserer ›Kunden‹ rumkriegen zu müssen, anstatt deren Kompagnons einschüchtern, illoyale Angestellte unter Druck setzen oder mich als Bulle oder Mafioso ausgeben zu müssen, um an Informationen ranzukommen. Also halt die Klappe, Doc, oder ich lasse dich gegen Nummer Fünfzehn austauschen.«
    Nummer Fünfzehn, schön wie ein Gott, tat dasselbe wie ich, nur mit Männern.
    Ich beklagte mich nie wieder.
    Ich habe wirklich ein hervorragendes Training genossen. Ja, auch darauf bin ich vorbereitet worden. Alle möglichen Techniken, Tantra, Tao und Kamasutra: Bei den Kursen ging es neben dem Sex mit all seinen mechanischen und körperlichen Aspekten vor allem auch um die Kunst der Verführung, die manchmal viel effektiver ist als Sex, wenn man jemandes Sympathie und Vertrauen gewinnen will.
    Yolanda gibt jetzt einen schnurrenden Laut von sich, streckt sich wohlig und drückt dann ein Bein an meins, bevor sie wieder in einen ruhigen Schlaf hinübergleitet.
    Worin unterscheidet sich also der bisherige Sex vom Sex in der vergangenen Nacht?
    Der Unterschied bin ich, der ich jetzt etwas dabei empfinde, während ich früher nur Gymnastik gemacht habe.
    Und der Unterschied ist sie, die diese tiefen Gefühle in mir geweckt hat.
    Und diese Gefühle sind nun nicht mehr zu unterdrücken. Da nützt es wenig, sich zu sagen, dass es nicht sein darf, dass mein Job, die verlorene Augenklappe eines Piratenkapitäns, mein Doppelleben, die Gefahr, in der Leticia oder ich gerade schweben, all meine verdrängten Zweifel dagegensprechen.
    Vielleicht sollte ich es besser mal von ihrer Seite aus betrachten: Für sie ist es möglicherweise nur eine flüchtige Sommerromanze, ein One-Night-Stand zum Saisonbeginn, purer Sex und nichts weiter.
    Oder auch nicht.
    Das gibt mir aber noch lange nicht das Recht, mehr zu wollen.
    Doch ich will mehr.
    Ich will es so sehr, dass ich meine Stimme zu hören glaube, obwohl ich die Lippen gar nicht bewegt habe. Ich drehe mich auf die Seite und betrachte sie. Sie ist nicht vollkommen, auch wenn ihr junger, biegsamer Körper mir verrät, dass sie regelmäßig, aber nicht fanatisch Sport treibt. Sie wirkt auf mich wie ein Nest, ein warmes, kuscheliges Nest, das nach Champagner und Sex riecht. Sie ist wie das Leben selbst, und obwohl ich schon so lange von dem Geschäft mit dem Tod lebe, sehe ich sie an und sage mir im Stillen immer wieder, dass ich mehr will, dass ich mir noch eine Nacht mit ihr wünsche, nein, noch viele Nächte und, wenn möglich, auch den ein oder anderen Tag.
    In diesem Moment schlägt sie die Augen auf, und ihr Blick ist wie eine zärtliche Berührung.
    »Ich will mehr«, murmelt sie schlaftrunken. »Ich will noch eine Nacht mit dir, nein, noch viele Nächte und, wenn möglich, auch den ein oder anderen Tag.«
    Da nehme ich sie in meine Arme, und wir machen dort weiter, wo wir vor Stunden aufgehört haben, atmen das Prickeln unserer Haut und schlürfen voller Hingabe den Likör unserer Wollust. Draußen klettert die Sonne immer höher, aber in irgend so einem

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