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Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
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waren. Er führte um einen Felsen herum, sodass meine Eltern nicht mehr zu sehen waren, dafür aber unter mir das Meer, das mit hypnotischer Regelmäßigkeit gegen die Klippen brandete. Auf einem vorspringenden Felsen beugte ich mich neugierig vor, weil ich sehen wollte, ob darunter eine Höhle mit einem kostbaren Schatz verborgen war, der Unterschlupf von Piraten, die von den Fregatten der Queen verfolgt wurden, oder der Eingang zu einem geheimen unterirdischen Palast – und bekam das Übergewicht, stürzte hinab in die Tiefe, schwer wie ein Stein von fünf Jahren.
    Das aufgewühlte Meer spielte mit mir wie mit einem Stück Treibgut. Jeden Moment konnte es mich gegen die Felsen schmettern oder für immer in seinen Fluten begraben. Da wusste ich, dass ich sterben würde, denn das Meer war unendlich groß, und niemand würde mich retten. Und dann ging ich unter, ich schloss die Augen und hörte auf, gegen die Strömung anzuschwimmen, die mich immer wieder nach unten zog – bis mich auf einmal eine noch stärkere Strömung mit sich riss, und als ich den Kopf aus dem Wasser streckte, sah ich, dass es keine Strömung, sondern die starken Arme meines Vaters waren, der mich beruhigend anlächelte, während er mit mir zum Strand zurückschwamm. Immer wieder hielt er inne, um Luft zu holen und mir lächelnd zu versichern, alles sei gut. Und da fiel alle Angst von mir ab, denn in diesem Moment wusste ich, dass mein Vater viel, viel stärker war als das Meer.
    Das Gute an unserem Training ist, dass man dabei Reflexe entwickelt, die einem oftmals das Leben retten können. Allerdings sind es nur bedingte Reflexe, durch Konditionierung erworbene Reaktionen des Körpers, die in ganz bestimmten Situationen automatisch ausgelöst werden.
    Die frühere Nummer Drei liebte es, diese Reflexe auf die Probe zu stellen. Wenn wir in der Nacht vor einem Auftrag gemeinsam auf der Lauer lagen, versuchte er deshalb stets, mir die Pistole in den Mund zu schieben und mich dann aufzuwecken. Das gelang ihm allerdings nur die beiden ersten Male.
    »Auf welches deiner Eier soll ich schießen?«, fragte ich ihn danach immer, wenn er die Waffe noch nicht einmal unter dem Kopfkissen hervorgeholt hatte, und zielte mit meiner eigenen Pistole auf ihn.
    »Du bist ein Arsch, mein Junge«, brummte er dann. »Schläfst du denn nie?«
    »Wieso? Ich schlafe doch«, antwortete ich ihm, drehte mich auf die andere Seite und schnarchte seelenruhig weiter.
    Leticia ist natürlich längst nicht so leise wie die alte Nummer Drei, weshalb sie mein Messer-Handy bereits an der Kehle hat, noch bevor ich die Augen aufmache.
    »He, was tust du, Juan?!”, kreischt sie im ersten Moment erschrocken auf, muss dann aber erleichtert lachen, als sie erkennt, was es ist. »Willst du mich mit deinem Handy erstechen?«
    »Entschuldige, ich habe geschlafen und …«
    »Schon gut. Wo wir gerade von Handys reden«, sagt sie und drückt mir ihr eigenes in die Hand, »hier, Gaspar will mit dir sprechen. Was ihr wohl wieder ausheckt, ihr …«
    Damit geht sie davon, scheinbar tief gekränkt über die vermeintliche Kameraderie zwischen ihrem Verflossenen und ihrem neuen Lover. Aber sie macht nur Theater. Ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass ihr das gefällt.
    »Juan?«, sagt die Stimme des Richters am Telefon.
    »Ja?«
    »Entschuldige die Störung, aber wir müssen uns sehen. Kannst du heute Abend nach Cartagena kommen? Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber es ist wirklich wichtig. Hast du was zum Schreiben?«
    Ich sage ja, obwohl es nicht stimmt. Ich brauche keinen Stift. Sich Dinge zu merken ist Teil unseres Trainings. Der Richter diktiert mir den Namen und die Adresse einer Kneipe.
    »Bitte komm allein«, sagt er noch und legt dann ohne ein weiteres Wort auf.
    Ich strecke mich wieder auf dem Liegestuhl aus.
    Vom Meer her nähert sich eine dicke, graue Wolkenwand. Bald wird der Himmel ganz bedeckt sein, und der Sturm das Wasser aufwühlen.
    So wie es mich aufwühlt, endlich zu wissen, wer mich zur Schlachtbank führen soll.
    Der Freund meiner Frau und zukünftige Stiefvater meiner Kinder.
    Man bestellt den »Kunden« in ein Lokal, damit er nicht misstrauisch wird, lässt ihn dort eine ganze Weile warten, damit er ein paar Gläser trinkt, ruft ihn dann an, um Bescheid zu sagen, dass man leider, leider verhindert ist, und wenn der »Kunde« sich dann auf den Heimweg macht, erwartet ihn sein Mörder irgendwo im Hinterhalt. Es wird empfohlen, eine Pistole mit Schalldämpfer

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