Wir toeten nicht jeden
einer Verschnaufpause am Rand des Pools fragt mich Leti, ob wir an Weihnachten zusammen eine Reise machen könnten. Wir drei.
»Abgemacht«, erwidere ich, ohne zu wissen, ob ich dann überhaupt noch am Leben bin. »Antonio und du überlegt euch gemeinsam, wo es hingehen soll, und ich reserviere.«
»Wir fahren, wohin wir wollen?«, fragt mein Sohn ungläubig.
»Wohin ihr wollt.«
Während Leti das Ziel dieser Reise in der Form der Wolken über uns zu suchen beginnt, will Antonio plötzlich wissen, wie sein Großvater war.
Erstaunt sehe ich ihn an, zögere kurz.
»Er war ein toller Mann«, antworte ich schließlich. »Sein Lächeln konnte sogar das Meer entwaffnen, und er hatte unheimlich starke Arme.«
»Vermisst du ihn, Papi?«, fragt meine Tochter.
»Seit ich sieben bin, Leti.«
Da legt Antonio alle Scheu ab und schlingt seine Arme um mich.
»Was haben Leti und ich doch für ein Glück: Wir haben dich noch!«
»Genau!«, ruft Leti und umarmt mich von der anderen Seite.
»O Gott, was ist denn das hier? Eine venezolanische Telenovela?«, rufe ich scheinbar entrüstet, während ich sie packe, hochhebe und ins Wasser platschen lasse – Auftakt zu einer Wasserschlacht, in der ich mich besiegen lasse, um nicht daran zu denken, was dieser Glücksmoment mit meinen Kindern und Antonios Satz bedeuten.
Wir haben dich noch.
Ja, noch.
Ob die Kinder mir abkaufen, dass ich im Liegestuhl tief und fest schlafe? Jedenfalls stören sie mich nicht. Sie liegen nebeneinander auf ihren Handtüchern und sind vollauf damit beschäftigt, zu überlegen, wohin uns unsere gemeinsame Reise führen soll. Man spürt, dass sie sich jetzt schon unbändig darauf freuen. Ich werde sie nachher bitten, sich heute noch festzulegen. Dann kann ich umgehend buchen, damit sie auch ohne mich fahren können, falls ich nicht mit dem Leben davonkomme.
Mein Vater. Warum hat mich Antonio wohl gerade jetzt nach ihm gefragt? Ich habe nie über ihn gesprochen. Schon während meiner Kindheit war das Thema tabu, und wenn meine Mutter ihren verstorbenen Ehemann doch einmal erwähnen musste – was wirklich höchst selten vorkam –, dann redete sie immer nur von ihm , als hätte es einen Osvaldo Pérez nie gegeben, oder als würde er noch immer von einem Regime im Niedergang verfolgt, dem er meiner Mutter zufolge nicht einmal direkt die Stirn geboten hatte, auch wenn die Teilnahme an einem Streik ihm gegen Ende der Francozeit ein paar Tage Knast und jede Menge Faustschläge einbrachte. Als man ihn entließ, hatte ihn ein Autobus einfach überfahren, wie ein Hans Guckindieluft, der laut meiner Mutter immer Luftschlösser gebaut hatte, anstatt die Dinge so zu tun, wie es sich gehörte .
Osvaldo. Schon eigenartig, dass mir jetzt wieder einfällt, dass das auch mein zweiter Vorname ist. Keine Ahnung, ob ich meinem Vater ähnlich bin. Als ich nach Mamas Tod ihre Wohnung leer räumte, fand ich ganz hinten in ihrem Schrank eine Blechdose mit einer Handvoll vergilbter Fotos, auf denen ein junger, zuversichtlich lächelnder Osvaldo zu sehen war. Den Mund vom damals üblichen Schnurrbart verdeckt, hatte er die Ärmel bis zum Bizeps hochgekrempelt, und an seinem linken Arm hing eine junge Frau, die ihn anhimmelte und die das Leben dann irgendwann zu meiner Mutter machte.
Ich selbst habe nur eine einzige Erinnerung an ihn, wahrscheinlich weil er immer unterwegs war, auf der Suche nach einer anständigen Arbeit oder einem Traum, der ihm nicht zu eng wurde. Aber in jenem Sommer in Galicien war er bei uns, mitsamt einem funkelnagelneuen Auto, das davon zeugte, dass Osvaldo allmählich erreichte, was er sich immer gewünscht hatte.
Mit diesem Auto, an dessen Farbe ich mich nicht mehr erinnere, wohl aber an dessen Geruch nach Fabrik und imprägnierten Stoffbezügen, fuhren wir an der Steilküste entlang, immer dicht am Abgrund, und es kam mir so vor, als ob Papa damit sogar fliegen könnte, wenn er denn nur wollte. Ich weiß noch, dass ich mit diesem Gedanken irgendwann einschlief, und als ich die Augen wieder öffnete, waren wir an einem Strand angekommen. Wir picknickten, Mama lachte viel, und ich kam mir vor wie ein Entdeckungsreisender, als ich auf einen Felsen kletterte und dort meine imaginäre Fahne hisste. Unten in der Bucht küssten sie sich, und Mama lachte auf einmal ganz anders als sonst, was ich ausnutzte, um zu einem schmalen Pfad hochzuklettern, einem von diesen Gebirgspfaden, die kühnen, waghalsigen Osvaldos wie meinem Vater und mir vorbehalten
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