Wir tun es für Geld
die Heizstrahler können kaum etwas ausrichten, und die vielen Treppen, die wir steigen mussten, haben einen schon fertiggemacht, bevor man überhaupt angekommen ist. Wir hätten sogar noch höher gekonnt, aber Gustavo wollte unbedingt das 21. Stockwerk, weil 1921 das Geburtsjahr von Astor Piazzolla war. Ein Glück nur, dass der Kerl nicht später zur Welt gekommen ist.
Wenn der Kurs jedes Mal hier stattfinden würde, könnte ich mich ja noch irgendwie darauf einstellen. Was mich unruhig macht, ist die Aussicht, dass ich meine Schritte beim nächsten Termin vielleicht auf Bahnsteig 9 im Hauptbahnhof oder auf dem Rasen eines ausverkauften Fußballstadions setzen muss. Wirklich, keine Ahnung, warum Ines unbedingt hier mitmachen will. Ich muss es aber vielleicht auch nicht verstehen.
»Müsst rruhig bleiben und noch mal prrobieren. Schauen, Lukas, ich zeige. Die Base ist Grundfigur. Musst die Schritt können in die Schlaff.«
Weia. Gustavo hat bestimmt Extrageld von Ekkehart dafür gezahlt bekommen, dass er uns ganz besonders im Auge behält. Beim Vormachen tritt Ines unserem Tanzlehrer auf den Fuß. Wenigstens bin ich hier nicht der Einzige, der alles falsch macht. Gustavo verzieht aber keine Miene. Hat wahrscheinlich schon eine dicke Hornhaut an der Stelle.
»Jetzt noch mal du.«
Okay. Die atemberaubende Aussicht auf Sternenhimmel und Stadtlichter nicht beachten, konzentrieren und auf drei einen Vorwärtsschritt mit rechts machen.
»So ist rrichtig. Weiterr üben.«
Ich muss zugeben, die Musik gefällt mir. Wenn man länger zuhört, wird die penetrante Tango-Schwermütigkeit zwar ein bisschen anstrengend, aber mir fällt kaum eine Musik ein, die es schafft, erdig und gleichzeitig schwungvoll zu klingen. Ich denke an einen mächtigen, purpurfarbenen Samtvorhang, der langsam auf und zu geht und rosenschwere Luft um unsere Köpfe bewegt.
»Super, Lukas. Dreimal hintereinander die Base richtig getanzt!«
Eben. Man muss sich einfach der Musik hingeben und nicht an die Schritte denken. Wenn, dann an die Partnerin. Ines… Autsch!
»Hihi, tschuldigung. Komm, kurze Pause.«
Wir setzen uns an einen der Campingtische in der Ecke. Ines wickelt sich in eine der bereitgelegten Decken, und wir gucken zu, wie die Leute ihre Tanzschuhe über die erstaunlich glatte Betonfläche spazieren führen. Gustavo geht von Paar zu Paar und gibt mit ernstem Gesicht Korrekturanweisungen. Am Rand sehe ich einen alten Mann, der eine schlanke junge Frau ruhig und elegant über die graue Fläche führt. Jeder Schritt sitzt, als wären sie ein Herz und eine Seele. Ja, sie könnten einfach aus dem Hochhaus heraus- und in der Luft weitertanzen, hoch über der Stadt ihre Schritte setzen, die Lichter unter sich. Irgendeinen magischen Punkt haben die beiden überwunden. Ich will das auch können.
»Die Anlage hier klingt viel zu mittenbetont. Kein Wunder bei einem Raum, der keine Wände hat. Ich frag mal Gustavo, ob er wenigstens den Verstärker ausgephast hat.«
»Untersteh dich.«
»He, ist es dir etwa peinlich, dass deine Frau ein kultiviertes Gehör hat?«
Deine Frau. Ich sehe sie lange an. Nur ihr Kopf schaut aus der Decke heraus, und ihre blonden Haare fließen über den filzigen braunen Stoff. Denkt sie auch gerade darüber nach, dass sie gerade »deine Frau« gesagt hat? Die gewohnte Angriffslust ist jedenfalls plötzlich aus ihren Augen verschwunden. Kann ich ihr jetzt sagen, dass ich wünschte, sie wäre meine Frau – also nicht nur in echt, sondern quasi auch so richtig? Nein. Erbärmlich.
Ich ahne zwar, dass das Experiment »Eine Woche Wohnen mit Bernd« nicht wirklich ein hundertprozentiger Erfolg war, aber den Tiefschlag vom Le Canard fühle ich immer noch in meinem Bauch wie am ersten Tag.
Bleiben wir einfach beim Thema.
»Wann Ekkehart wohl endlich seinen Wunder-Plattenspieler kriegt?«
»Ich hoffe, nicht so bald, weil er dann nämlich sofort seine Anlage wieder nach unten bringen wird.«
»Aber dann hätten wir ihn nicht mehr ganz so oft in der Wohnung.«
»Hätten wir doch.«
»Wieso?«
»Weil du niemals Ruhe geben wirst, bis du nicht jede Rille seiner Jazzplattensammlung mindestens zehn Mal zusammen mit ihm angehört und ihm dabei erklärt hast, dass Fetti Wells die zweite Tenortrompete von links in der Clown Basie Bigband ist.«
»Er heißt Dicky Wells, und er spielt Posau…«
»Außerdem verstehe ich nicht, warum du Ekkehart unbedingt Kochen beibringen willst.«
»Irgendjemand muss dem armen Kerl doch
Weitere Kostenlose Bücher