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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
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fängt, lege ich es in den leeren Eisbecher. Ich stehe auf, nehme den Becher mit dem brennenden Papier in die Hand und gehe damit zum Ausgang. Ich kann hören, wie der Typ seinen Posten auf der Personalseite verlässt. Die Tresenklappe fällt hinter ihm runter.
    Ich gehe schneller, zu dem Behälter für Recycling. Ich drücke den Deckel auf und werfe den brennenden Becher hinein.
    »Was machst du da, du Idiot«, schreit der Typ. Er läuft zum Müllbehälter.
    Ich drehe mich in der Tür um. Sehe, wie schwarzer Rauch aus dem Behälter hervorquillt. Jemand kommt mit einem Feuerlöscher angelaufen.
    Da gehe ich.
    Ich versuche ein Resümee, gehe alles durch, was ich weiß. Überdenke alles, was passiert ist. Wäge die unterschiedlichen Waagschalen ab, um mir ein Bild davon machen zu können, wie verschiedene Dinge sich zueinander verhalten. Was lebenswichtig ist, was nur Quatsch ist. Ich sortiere, säubere. Werde nicht klüger davon, zumindest nicht viel. Dann merke ich, dass jemand um meine Aufmerksamkeit ringt. Es ist Kristin.
    »Nimm noch einen Krebs, Kim«, wiederholt sie und schiebt mir die große Schüssel hin.
    Ich kehre ins Alltagsleben zurück, zu dem kleinen Flusskrebsessen zu dritt in unserem Pfefferkuchenhaus. Ich sehe mir die roten Tiere an, die in einer braunen Brühe zwischen Dillbüscheln herumschwimmen. Ich schüttle den Kopf. Ich kann nicht mehr. Mein Teller verschwindet unter einem Berg von Schalen. Ich denke einen Gedanken, der mich schwindeln lässt. Alle diese Krebse, die ich gegessen habe. Vor kurzem waren sie noch ganz. Sie hatten dünne Beine, lange, zarte Fühler. Kräftige Zangen, muskulöse Hinterteile. Jetzt sind sie nur ein hoffnungsloses Durcheinander von zerkauten Beinen, zerbrochenen Rücken und aufgerissenen Hinterteilen. »Wie leicht es doch ist, Leben zu zerstören«, denke ich. Etwas Lebendiges zu zerbrechen. Und wie unmöglich es ist, es wieder zusammenzusetzen. Niemand wäre in der Lage, aus all diesen Teilen wieder einen Flusskrebs zu konstruieren.
    Wir können Modelle bauen, von Fahrzeugen, Flugzeugen und Autos. Aber wir können ein Leben nicht wieder zusammensetzen. Wer hat es zu Anfang nur zusammengesetzt? Ich weiß es nicht. Woher sollte ich es auch wissen?
    Jim beugt sich über den Tisch. Er schaut in die Schüssel, wählt seine Beute aus, holt einen Krebs heraus, dreht ihn auf den Rücken und mustert ihn unter dem Schwanz.
    »Ein Männchen«, sagt er enttäuscht. «Was machen sie heutzutage nur mit all den Weibchen?«
    »Wahrscheinlich werfen sie sie wieder in den Mississippi zurück«, sage ich.
    Jim hält den Krebs vor den Mund, als wäre es eine Mundharmonika. Dann saugt er sich fest. Es gurgelt so laut, dass es fast Wellen in der Küche schlägt. Kristin und ich schauen uns lachend an.
    »Niemand isst Krebse mit so einer Inbrunst wie du, Jim«, sage ich.
    Er nickt. Legt den Krebs auf seinen Teller und bricht eine Zange ab.
    «Weißt du eigentlich, was das bedeutet?«, fragt er. «Mississippi?«
    «Keine Ahnung.«
    »Die eingeschnappte Frau. Missis Sippy.«
    »Möchte noch jemand geröstetes Brot?«
    Jim und ich schütteln den Kopf, Kristin fängt an den Tisch abzudecken. Ich stelle fest, dass sie einigermaßen zufrieden aussieht.
    »Stimmt das?«, frage ich.
    Da lacht Jim laut los. Er trinkt einen Schluck Bier und schaut mich mit amüsierten Augen an.
    »Das hast du wohl geglaubt, was?«
    Ich nicke. Missis Sippy bringt mich auf eine Sache, die ich ihn schon lange fragen wollte.
    »Dieses Mädchen in Vietnam, die genauso heißt wie ich, die mit Napalm übergossen wurde und brannte, was ist eigentlich später aus ihr geworden?«
    Jim schaut mich an, als fragte er sich, welche Verknüpfungen mein Gehirn eigentlich zustande bringe. »Sie wohnt heute in Kanada. Sie ist verheiratet und hat mehrere Kinder.«
    »Ja, das weiß ich. Das hast du schon erzählt. Aber wie schafft sie es, mit ihrer Erinnerung an den Krieg zu leben?«
    Eine Weile sitzt er schweigend da. Zerbeißt nachdenklich einige Krebsbeine mit den Zähnen.
    »Sie hat allen verziehen. Sie hat sogar den Offizier getroffen, der den Befehl zur Bombardierung ihrer Stadt gab. Sie hat ihn umarmt. In allen Zeitschriften waren Bilder davon.«
    »Kann man das wirklich?«, wundert sich Kristin. »Nun ja«, erwidert Jim. »Das ist sicher für uns nur schwer zu verstehen. Ich bin nie irgendwelchem Hass begegnet, als ich nach Vietnam zurückgekehrt bin. Ganz im Gegenteil. Die Leute sind zu mir gekommen und haben mich begrüßt. '

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