Wir waren nie Freunde
Kilometer sind schnell geschafft, und als ich aussteige, merke ich, dass ich nicht so recht auf das vorbereitet bin, was mich erwartet.
Sie steht da, um mich abzuholen. Sie trägt ein gelbes Kleid. Steht ein Stück von der Haltestelle entfernt da, wie sie es immer getan hat. Dieses Mal frage ich sie. »Oma, warum stehst du immer da hinten und nicht direkt an der Haltestelle?«
Die Frage lässt sie erstarren. Ich kann ihr ansehen, dass sie noch nie darüber nachgedacht hat. Das ist wahrscheinlich eine ganz natürliche Sache für sie, dort zu stehen, sich ein wenig im Hintergrund zu halten. »Wie geht es Stig?«, frage ich, um den Beigeschmack der ersten Frage wegzuwischen.
»Danke, gut«, sagt sie. »Er ist schon viel munterer. Im Augenblick ist er im Wald und sucht Blaubeeren für dich.« »Wie lieb«, sage ich und denke, dass ich lieber die Blaubeeren selbst gepflückt hätte. Aber dann fällt mir alles wieder ein. Alles stürzt in meinen Schädel ein. Ich könnte doch gar nicht in den Wald gehen und Blaubeeren pflücken. Jetzt nicht. Nicht nach dem, was passiert ist. Ich würde mich in das nächstbeste Moorstück legen und heulen, bis irgendwelche Pilzsucher kämen und mich fänden.
» Und wie geht es dir?«, fragt meine Oma.
»Nun ja«, antworte ich. »Eigentlich wohl nicht so besonders, wenn ich ehrlich sein soll. Ich bin über das mit Kim immer noch nicht hinweggekommen.«
»Das geht vorbei. Alles geht vorbei. Du musst einen Weg finden, wie du weiterkommen kannst.«
»Glaubst du wirklich, ich kann den finden?«
»Davon bin ich fest überzeugt.«
Meine Großmutter hat eine Torte gebacken, und als ich sie sehe, fange ich fast wieder an zu heulen, weil sie mich so sehr an meine Kindheit erinnert. An all die Sommer, die ich hier verbracht habe. Und das noch zu all dem anderen, das wird einfach zu viel. Oma sieht und versteht es.
»Wenn du willst, kannst du draußen auf der Treppe Kaffee trinken. Nutz es aus, solange die Sonne scheint.« »Au ja, gern«, sage ich.
Als ich auf der Treppe sitze, kommen die Bilder zu mir zurück. Ich wusste, dass es so sein würde, aber jetzt kämpfe ich nicht mehr dagegen an. Das ist schon in Ordnung. Das musste ja so kommen.
Ich denke daran, wie wir hier auf den Hof einfielen. Philip weiß wie eine Leiche. Manny verkniffen, mit schwarzen Pupillen. Pia laut heulend, Criz und ich Arm in Arm, Ronja nass und voller Lehmklumpen.
Mein Gott, welchen Schock sie erlitten, als wir erzählten, was passiert war. Dass du noch im Wald lagst, schwer verletzt. Und dabei sagten wir nicht einmal, was wirklich passiert war. Wir wahrten die Maske. Wir hielten dicht, wie wir es vorher verabredet hatten. Du hättest dich verletzt, so erzählten wir es. Ich weiß nicht, ob die alten Leute Verdacht schöpften. Ich denke nicht. Ich glaube, sie gingen davon aus, dass wir betrunken waren, und dass du dich verletzt hattest. Das war uns ja anzusehen. Wir stanken sicher meilenweit nach Schnaps und Kotze. Und das war in ihren Augen sicher schon schlimm genug.
Die Zeit, die verrann, bis die Polizei eintraf, erscheint mir als die längste, die ich je erlebt habe. Ich lief in der Küche hin und her, zwischen Herd und Spülbecken, die ganze Zeit murmelnd »Nun beeilt euch! Nun beeilt euch!« Das Radio lief Ich kann mich daran erinnern, dass es um irgendwelche Betrachtungen über die religiöse Botschaft von Ostern ging, um Jesu Tod und Wiederauferstehung. Ich faltete die Hände und betete zu Gott, dass du es schaffen solltest. »Oh, lieber Gott, wenn er im Sterben liegt, dann lass ihn noch nicht sterben, denn sie kommen doch gleich.« Das sagte ich vor mich hin. »Lass Kim noch ein bisschen leben, dass auch er wieder auferstehen kann.« Tausendmal schaute ich durchs Fenster über dem Spülbecken hinaus. Guckte auf den leeren Kiesweg und wünschte mir, dass sie bald auf dem Hügel hinter dem Holzschuppen auftauchen sollten.
Vielleicht dauerte es so lange, weil Wochenende war. Sicher hatten alle frei. Vielleicht meinten sie ja, dass das hier nicht so wichtig war. Ein paar Jugendliche, die draußen im Wald herumgewütet hatten. Vielleicht gab es woanders schlimmere Dinge.
Aber dann, als sie schließlich kamen, ging alles plötzlich ganz schnell. Als die Polizisten begriffen hatten, wie schwer du verletzt warst, ja, wir waren uns da einig, »er fuchtelte mit dem Messer herum, kriegte es dann direkt in den Bauch!«, da riefen sie die Zentrale an und forderten einen Hubschrauber an.
Hinten in den Autos
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