Wir waren nie Freunde
hatten sie Hunde. Sie sagten, einer von uns müsse mitkommen und ihnen den Weg zeigen. Ich dachte nur: »Mein Gott, das schaffe ich nie.« Aber Philip trat vor. »Ich mache das«, sagte er. Ich fragte mich, ob er das wirklich schaffen könnte. Er war ganz weiß im Gesicht. Ich fand, er sah aus wie sein eigener Geist, als er da zusammen mit der Hundepatrouille verschwand.
Die Sonne wärmt die Treppe, ich kann spüren, wie die wuchtigen Granitsteine die Wärme in sich auf saugen, wie sie sie speichern, wie sie an mich abgegeben wird, während ich hier sitze. Ich rutsche zur Wand hin, damit ich eine Lehne für den Rücken habe, blinzle in die Sonne, in die Welt da draußen. Ich fühle mich wie ein Tier, wie ein wildes Tier, das von Sonne und Sternen lebt, das tagsüber die Wärme in sich aufnimmt und des Nachts die Sterne auffängt, die in den Wald fallen.
Tiere mag ich. Manchmal, wenn mir der Blick eines Tieres begegnet, dann spüre ich, wie es in meinem Gewissen summt. Vielleicht bist du schuld daran, Kim. Du hast so viel über derartige Dinge geredet. Du mit all deinen Fragen. Ich möchte wissen, ob es die Antwort, die wir suchen, dort gibt, im Blick eines Tieres. In der Begegnung zwischen meinen Augen und denen des Tieres. Was unterscheidet uns eigentlich von ihnen?
Dass wir denken, planen können, Mitgefühl empfinden, mit Tieren und anderen Menschen? Aber wenn wir das nun gar nicht tun. Wenn wir nicht denken und kein Mitgefühl empfinden? Sind wir dann auch Tiere, oder sind wir noch etwas Schlimmeres, da wir nicht die Gabe nutzen, die uns gegeben wurde?
Meine Gedanken werden von Stig unterbrochen, der mit einem rostfreien Eimer in der Hand herangeschlurft kommt. Als er mir den Inhalt zeigt, freut er sich über meine überraschte Miene. Der Eimer ist bis zum Rand voller Beeren.
»Dieses Jahr ist ein Blaubeerjahr«, sagt er.
Er verschwindet mit dem Eimer, aber als ich ihm hinterherrufe, dass ich sie säubern kann, kommt er wieder mit einer Emailleschüssel und dem Eimer heraus und stellt beides neben mich.
»Das ist aber nett von dir.«
»Ich mache gern Beeren sauber. Dabei kann man so gut denken.
»Da kannst du recht haben.«
Ich denke an dich. Der ganze Eimer mit Blaubeeren wird leer, während ich an dich denke. An die aufwühlenden Tage danach. Nachdem du ins Krankenhaus geflogen worden warst und wir begriffen, dass du es schaffen wirst. Dass du überleben wirst, wieder gesund wirst, dass fast alles wieder normal werden wird.
So dachten wir tatsächlich. Es schien, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen, der jetzt vorbei war. Die Erleichterung war so groß. Ich erinnere mich, dass ich in einem schwindelerregenden Freudentaumel mit dem Telefonhörer am Ohr dastand und hörte, dass deine Verletzungen nicht so ernsthaft waren, wie ich befürchtet hatte.
Ach, wie froh ich doch war!
Da wusste ich nicht, dass das Schlimmste noch kam. Dass die Hölle kaum erst begonnen hatte.
Pia-Maria! Ich habe dich gestern gesehen, als du mit deiner Mutter nach Hause gekommen bist. Als du aus dem Taxi stiegst und deine Tasche entgegennahmst, die der Fahrer aus dem Kofferraum holte. Ihr habt etwas herumgefummelt, und die Tasche fiel auf die Straße. Wohin wart ihr wohl gefahren? Deine Mutter sah so fröhlich aus. Lag das an dir? Es sah so aus. Sie schaute dich die ganze Zeit an.
Criz hat erzählt, dass es dir beschissen geht. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß nicht, ob es dir besser gehen würde, wenn du erfährst, dass es mir so einigermaßen geht. Ich lebe einen Tag nach dem anderen. Ich denke oft an das, was passiert ist, ich nehme an, du auch. Ich frage mich, wie es zunächst war, und wie es sich so in die Richtung entwickeln konnte. Ich finde darauf keine Antwort, PM!
Wir waren nie Freunde, das stimmt. Ich mochte dich nie, und manchmal hatte ich das Gefühl, als würdest du noch weniger von mir halten, ja, als würdest du mich fast hassen und wärst der Meinung, ich sei überheblich. Ich glaube, du hast wirklich gemeint, ich wollte mich in meiner Baskenmütze und mit meinem langen schwarzen Schal hervortun. Aber ich wollte nicht hochnäsig sein. Ich habe nur nach meiner Rolle gesucht, nach mir selbst. Ich habe wohl versucht, eine Verkleidung zu finden, die mit meinen Gefühlen übereinstimmte, mit meinem Ich. Machen wir das nicht die ganze Zeit?
Wir leben in den Zeiten der Spiegelungen, PM. Ich weiß nicht, ob du schon mal daran gedacht hast. Das solltest du. Gerade du, die du dich doch so
Weitere Kostenlose Bücher