Wir wollen Freiheit
protestiert; in vielen anderen ägyptischen Städten und ganz besonders in Alexandria gibt es ebenfalls tägliche Proteste. Besonders heftig sind sie in Suez. Dort sind auch die Arbeiter inzwischen im Streik und zu dem einen großen Ruf nach dem Sturz des Präsidenten kommen viele einzelne Rufe: Mehr Lohn, ein besseres Management, Rücknahme der Privatisierungspolitik und mehr Lohngerechtigkeit fordern sie. »Es ist ganz klar, dass die Arbeiter losziehen und ihre Rechte einfordern. Wann sollten sie es tun, wenn nicht jetzt?«, sagt Kamal Abu Eita, einer der Arbeiteraktivisten. Er hat lange Jahre im Gefängnis gesessen und weist den Vorwurf zurück, dass die Arbeiter mit ihren zusätzlichen »kleinen« Forderungen die Revolution spalteten: »Die Arbeiter sind eine wichtige Kraft auf der Straße und ihre Proteste in den letzten Jahren haben den Weg zu dieser Revolution gebahnt. Natürlich müssen sie jetzt auch an ihre ganz speziellen Forderungen erinnern, die ja auch mit dem System im Zusammenhang stehen«, sagt er.
Heute erhöht Washington den Druck auf Ägypten. Es müsse schnell unumkehrbare Schritte geben, die dem Freiheitswillen des ägyptischen Volkes entgegenkommen, sagt Joe Biden. Washington forderte die ägyptische Regierung auf, den Ausnahmezustand sofort aufzuheben und kritisiert die Anmerkung von Omar Suleiman, dass Ägypten noch nicht reif sei für Demokratie. Suleiman hatte sich zuvor ans Volk gewandt und weitere Reformen versprochen. Er setzte mehrere Komitees ein, die eine Verfassungsänderung vorbereiten sollen. Auch versprach er nochmals die Aufklärung der Gewalt am »Mittwoch des Kamels«.
|65| Mittwoch – Die Tahrir-Kultur blüht
9. Februar 2011
Auf dem Tahrir-Platz gibt es inzwischen Revolutionssouvenirs zu kaufen: Fähnchen und Aufkleber in den Farben Ägyptens. Es blüht das, was später als Tahrir-Kultur bezeichnet wird: Künstler kommen, zeichnen und machen Workshops. Ein paar Jugendliche präsentieren ein Theaterstück mit Kasperpuppen. Ein alter Mann trägt Gedichte vor und Aid Bashir, der 2 7-jährige Kellner mit der Wollmütze, geht mit einem großen Buch über den Platz. Er will die Stimmung festhalten. »Ich sammle Zitate von Leuten, denn ich will einen Spielfilm über die Revolution drehen. Natürlich erst, wenn alles geschafft ist«, sagt er. Es soll keine Komödie werden, das wäre dem Andenken der Märtyrer nicht angemessen, aber lustig solle der Film schon werden. Schließlich hat die ägyptische Revolte Humor. »Bitte geh, ich will heiraten, bevor ich ein Greis bin!«, fordert ein junger Mann auf einem kleinen Transparent und freut sich, wenn jemand über seinen Spruch lacht. Viele Witze werden über die sogenannte ausländische Agenda des Protestes gemacht: Die ägyptische Regierung hat den Demonstranten immer wieder vorgeworfen, den Zielen fremder Mächte zu folgen. »Agenda« wird aber im Ägyptischen auch für »Notizbuch« benutzt. »Soll ich auch etwas schreiben?«, frage ich Aid, als er mir sein Notizbuch hinhält. Doch dann zieht er es im letzten Moment weg: »Nein, halt, stopp. Bloß nicht. Sonst bekomme ich womöglich wirklich eine ausländische Agenda!«, sagt er lachend. Kleiner Scherz: »Hoffentlich hat das neue Ägypten genauso viel Witz wie die Revolution. Dann wird alles gut«, schreibe ich.
Immer mehr Schauspieler und Sänger schließen sich den Protesten an oder gehen zumindest einmal die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz besuchen. Alle drängeln, wenn ein Star gesichtet wird. Allerdings werden nicht alle freundlich |66| begrüßt. Filmstar Tamer Hosny wird ausgebuht und soll den Tränen nahe gewesen sein, als er schnell wieder abzog. Er hatte sich am Anfang der Revolte gegen die Proteste ausgesprochen und das haben die Demonstranten nicht vergessen. »Das ist doch widerlich. Da kommen Leute, die immer das Regime unterstützt und davon profitiert haben und wollen sich jetzt hier hinstellen, weil sie denken, dass sie damit gute Werbung für sich machen können. Ein Foto von sich auf dem Tahrir, das kommt natürlich gut. Igitt, wir haben keinen Platz für Leute, die von einem Tag zum anderen die Farbe ihrer Haut ändern wie ein Chamäleon«, sagt Mariam Hany, die gerade aus vollem Halse Buh hinter dem Star hergerufen hat. Die Leute, die die Farbe ihrer Haut ändern, über die hört man in den nächsten Tagen noch viel. 1989 in Deutschland hießen sie Wendehälse.
Der Donnerstag der Enttäuschung
10. Februar 2011
Heute bringt die ehemalige
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