Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
bekommen. Wir sind geübt darin, unsere Meinung zu sagen – und erwarten, dass sie auch gehört wird. Man kann uns deswegen arrogant finden, man kann uns Egozentrik unterstellen – aber man kann wirklich nicht behaupten, dass wir uns für unsere Umgebung nicht interessieren, dass wir unpolitisch sind. Nicht nur unsere Vorstellung von politischer Kommunikation ist eine andere, sondern auch die Art und Weise unseres politischen Engagements. Alle paar Jahre mal stumm ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel zu machen, ist den meisten schlicht zu wenig. Das Schlagwort von der Online-Mitbestimmung haben die Piraten ebenso in die Medien gespült wie die Debatte um das Urheberrecht.
Für unsere im Netz sozialisierte Generation ist es schlicht anachronistisch, dass irgendwelche Obermacker Entscheidungen treffen und diese dann einfach nach unten durchgeben. Wer heute Lust auf Gestaltung und Einmischung hat, ist dafür zu selbstbewusst: Viele von uns sind gut ausgebildet; Eltern, Lehrer und Medien haben uns immer wieder gesagt, dass wir alles erreichen können, was wir wollen – wenn wir nur unseren Verstand schulen und uns interessieren. Wir sind es gewohnt, eine Wahl zu haben, und zwar eine echte Wahl – nicht nur die Wahl zwischen zwei mehr oder weniger schlechten Varianten. Und irgendwo, machen wir uns nichts vor, gehört es doch dazu, dass die Jungen Hierarchien aufbrechen, in Frage stellen! Ist es nicht das, was die Alten immer von uns wollten?
Deswegen interessiert uns Politik nur da, wo wir einen Einfluss haben, wo wir mitmachen können. Nicht umsonst ist Mitbestimmung gerade wieder DAS politische Schlagwort, wenn es um die Frage geht, wie Politikverdrossenheit bekämpft werden kann – sei es nun in Form von Bürgerbeteiligung, Volksbegehren oder auch im Sinne von innerparteilicher Basisdemokratie. Nun werfen die Alten häufig ein, dass Basisdemokratie wahrlich keine neue Idee sei, dass sie genau dasselbe in ihrer Jugend auch probiert hätten. Sie erzählen dann oft, wie das zum Beispiel bei den Grünen nicht wirklich funktioniert habe – und prophezeien ihren netzaffinen Kindern ein Scheitern.
In mancherlei Hinsicht haben sie sicher recht. Der Schwarm ist natürlich nicht klüger als das einzelne Mitglied, Basisdemokratie ist mühsam und nicht für jede Art von politischer Entscheidung gemacht. Dennoch übersehen die Alten, dass der basisdemokratische Gedanke der 68 er nur bedingt mit dem zu vergleichen ist, wie sich die Jüngeren Politik vorstellen. Denn echte Basisdemokratie verträgt sich eigentlich nicht besonders gut mit einer starken Ideologie, wie sie die politisch aktiven Eltern und Großeltern vertraten. Ideologien zeigen immer Grenzen auf, sie unterteilen in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß. Sie wollen interpretiert und befolgt werden. Wichtiger als die Meinung des Einzelnen ist im Zweifelsfall immer, wie sich ein Anliegen mit «der Sache» verträgt. Die Vorgaben, die zum Beispiel in linken Kreisen herrschten, waren in manchen Fällen schlicht totalitär. Es gab in viel größerem Ausmaß Verhaltenskodexe – und vor allem Feindbilder. Mit unserem Individualismus verträgt sich das nicht.
Die Trennlinien zwischen den Vertretern verschiedener Gruppen waren natürlich vor 30 Jahren auch viel größer als heute. Dass ein Konservativer und ein Linker gemeinsam ein Bier trinken gehen, war damals schwer vorstellbar. Klar, die Meinungen auf beiden Seiten waren ja auch viel extremer. Was sollte eine Feministin, die für das Recht auf Abtreibung kämpft, in einer Kommune lebt, von der sozialistisch-kommunistischen Weltrevolution träumt und am liebsten alle Atomkraftwerke abschalten würde, auch mit einem stramm konservativen Vertreter der Jungen Union, für den Frauen hinter den Herd gehören, der in Kommunisten den Feind sieht und der alle Lebensformen außerhalb der christlichen Ehe ablehnt, auch groß besprechen?
Heute ist das anders.
Da es keine Lager mit festgefügten Loyalitäten gibt, muss man bei jeder Einzelfrage aufs Neue um Anhänger werben. Die Menschen wählen kein weltanschauliches Gesamtpaket mehr – sie entscheiden von Fall zu Fall neu, total individualistisch halt.
Ob wir tatsächlich alle so unterschiedlich sind, wie wir denken, ist dabei natürlich eine ganz andere Frage. Viele kennen wohl das betretene Gefühl, das einsetzt, wenn bei einer Wohnungsbesichtigung plötzlich acht andere Paare neben einem stehen, die alle ungefähr dasselbe verdienen, in ähnlichen Jobs arbeiten, eine
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