Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
Doch noch mehr interessieren die Leute jene Politikberichte, die ihr Leben betreffen: Statistiken über sinkende Geburtenraten, Berichte über Armut und Reichtum, über Bildung und Gleichberechtigung. Unter diesen Artikeln finden auch oft ernsthaftere Diskussionen statt als unter den Artikeln über das übliche Parteiengedöns. Dort steht meistens nur sinngemäß: «Politiker sind doch alle gleich und die Regierung ist sowieso scheiße.»
Wenn es aber zum Beispiel um Arbeitslosigkeit geht, um Kindererziehung, um Rollenbilder und um die tatsächliche Struktur unserer Gesellschaft, dann wird es interessant, ja, geradezu berührend: Da schreibt dann der Facharbeiter von sinnlosen Weiterbildungsmaßnahmen der Agentur für Arbeit. Da erzählt dann die junge Managerin, wie sie sich gegen Sexismus zur Wehr setzen will. Da berichtet der Vollzeit-Vater, wie schwierig es ist, als Mann die Rolle der «Hausfrau» zu übernehmen. Da geht es plötzlich um verpasste Chancen, Zukunftsträume, um Hoffnung und Enttäuschung.
Hier liegt für alle Medien enormes Potenzial. Zum einen können sie erkennen, welche Themen die Leser besonders interessieren. Ganz ohne dass sie dafür eine teure Leserstudie in Auftrag geben müssen. Zum anderen können sie bisher vernachlässigte Themen entdecken – gerade in dem Bereich, der oft noch mit dem Begriff «weiche Themen» umschrieben wird, also jene Themen, die die Menschen direkt betreffen. Denn natürlich sind die Verwerfungen der großen Politik wichtig, aber eben nicht nur in Form von «Und dann hat der das gesagt und darauf hat der mit – Skandal! – reagiert». Stattdessen ist es wichtiger denn je zu erklären, welche Auswirkungen die große, komplizierte Politik in wirtschaftlich unsicheren Zeiten auf das Leben jedes Einzelnen hat.
Auch hier heißt es also: Kommunikation muss in beide Richtungen funktionieren. Es gibt mehr als nur Sender und Empfänger. Mit dieser Erkenntnis tun sich viele Journalisten schwer und wissen nicht so recht, wie sie die Möglichkeiten von Leserdialog, Twitter, Facebook und Co. wahrnehmen sollen und wollen. Sie müssten hier ihre eigene Rolle als «Sender» ebenso hinterfragen wie die bisherige Art der Berichterstattung. Das will nicht jeder. Doch jetzt, wo jede altehrwürdige Zeitung von der
Süddeutschen
über die
Welt
bis hin zur
Zeit
auch eine erfolgreiche Online-Seite hat, die von Journalisten befüllt wird, die die Chancen des Internets als solche begreifen, interessiert man sich auf einmal auch in Print-Redaktionen dafür, welcher Artikel am besten geklickt wurde. Und welches Thema die Menschen am meisten beschäftigt.
Natürlich hat das Fremdeln mit dem Internet noch andere Gründe, es geht ja schließlich um viel Geld. Bis das Internet groß wurde, waren Tageszeitungen wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Nun bricht die Auflage ein, vor allem junge Leser informieren sich lieber online aus verschiedenen Quellen, als eine Zeitung zu abonnieren. Das macht vielen Journalisten – und nicht nur älteren – zu Recht Angst.
Aber es hilft ja nicht, «dieses Internet» zu verteufeln, weil es ein lang funktionierendes Geschäftsmodell in einigen wenigen Branchen über den Haufen wirft. Macht kommt, Macht geht – und niemand hat ein Anrecht darauf, einmal gewonnene Privilegien für immer zu behalten. Viele andere Branchen profitieren schließlich enorm vom digitalen Wandel. Ganz sicher wird niemand das Internet wieder abschalten, es ist in vielerlei Hinsicht längst zu einem festen Bestandteil der Gesellschaft geworden. Es ist die technologische Komponente, ohne die die Globalisierung nicht denkbar wäre. Und auch jene Kritiker, die völlig zu Recht auf die Nachteile des digitalen Wandels hinweisen, können nicht verhehlen, dass er bereits jetzt das Denken und Handeln der Menschen in einer so fundamentalen Weise verändert hat, dass es unmöglich ist, ihn rückgängig zu machen.
Allerdings ist die Abkehr von den alten elitären Machtstrukturen keine absolute, besser gesagt: Auch unter Jungen gibt es natürlich Hierarchien, was den meisten von ihnen auch bewusst ist. Auch im Netz muss man sich zurechtfinden, muss die richtigen Mailinglisten und Gruppen kennen, den Demoaufruf überhaupt mitbekommen. Das lässt sich bei den Piraten Tag für Tag im Liquid Feedback beobachten. Natürlich bekommt der Partei-Prominente aus Berlin, der einen großen Teil seiner Zeit auf Piratentreffen verbringt, mehr Stimmen delegiert als irgendein einfacher Basispirat aus der
Weitere Kostenlose Bücher