Wir Wunderkinder
Liebesgaben.
Einmal sahen wir unseren Klassenkameraden Tiches, wie er auf einem Abstellgleis Leerwaggons mit patriotischen Sprüchen und selbsterfundenen kriegerischen Verschen beschmierte.
Ich hatte zu jener Zeit eine besondere Vorliebe für den Herbst. In der klaren Luft sah man dann hinter dem heimatlichen Flußtal die Berge des Thüringer Waldes auftauchen, die den Sommer über im Dunst verschwunden blieben. Auch war die Luft voll wunderbarer Aromen und herber Düfte. Es roch nach Äpfeln und gilbendem Laub, und von den Feldern wehte der scharf beizende Geruch der Kartoffelfeuer.
In Tante Remmys Garten, darin Astern und Malven in bunter Fülle blühten, waren diese Düfte des scheidenden Jahres besonders intensiv, weil er an den großen Park des Schlosses grenzte, in dem es einen freundlich hellen Obstgarten und einen dunklen, etwas verwilderten Waldteil mit uralten Buchen und Ahornbäumen gab. An kühlen Reif morgen waren die Wiesen darin mit edlen Äpfeln besät, die niemand aufhob. Denn in dem Schloß wohnte nur eine uralte, blinde Prinzessin mit einem fast ebenso alten Diener, die sich um den sanft modernden Verfall ihres Anwesens nicht kümmerten. Ich lag gern in Tante Remmys wohlgeordneter Gartenwelt und schrieb Verse vom Werden und Vergehen.
Eines Morgens in diesem Herbst 1914 hörte ich von drüben helle, klingende Stimmen eine fremde Sprache sprechen, die wir in der Schule nicht gelernt hatten. Ich lief an den Zaun zwischen den beiden Anwesen und sah zwei ungewöhnlich schöne Mädchen von fremdartigem Reiz: eine mit ganz weißer Haut, großen, graublauen Augen und bis auf die Schultern niederfallendem hellblondem Haar, und die andere mit fast knabenhaft kurzen, gekräuselten schwarzen Locken um ein sonnengebräuntes Gesicht. Dieses Mädchen – sie mußte ebenso wie die andere in meinem Alter sein – hatte schwarze, lebhafte Augen und eine tiefe Altstimme. Aber vielleicht war die Blonde noch schöner. Es überlief einen richtig, wenn man in ihre Augen sah.
Als die märchenhaften Geschöpfe mich erblickten, kamen sie an den Zaun.
»Was machst du da?« fragte die Schwarze mit einem harten, fremden Akzent.
»Ich schreibe«, sagte ich verlegen.
»Gib es mir!«
»Ich denke gar nicht dran!«
Das schien mir doch merkwürdig, daß ich mich so einfach herumkommandieren lassen sollte – noch dazu von einem Mädchen. Schließlich hatte Tante Remmy auch einen adligen Mann gehabt – einen Herrn von Schultze – und wohnte deshalb im Kavaliershäuschen.
»Wenn ich dich bitte, auch nicht?« fragte nun die Schwarze weiter, wobei sie ihre Lippen ein bißchen spöttisch schürzte.
Aber sie sagte es immerhin so reizend, daß ich nicht anders konnte, als ihr meine Verse hinüberzureichen.
Das schwarze Mädchen sah auf das Blatt, runzelte die Stirn und sagte: »Oh, Puschkin«, dann gab sie es der Blonden.
Bisher hatte die zweite noch kein Wort gesprochen. Jetzt las sie die Verse halblaut, mit einer sehr hübschen, seelenvollen Betonung. Dann blickte sie zu mir auf.
»Haben Sie das allein gemacht?«
Sie sagte wenigstens ›Sie‹ zu mir. Trotzdem trumpfte ich auf:
»Na klar!«
»Können Sie das immer?«
»Sooft Sie wollen …«
Jetzt mischte sich wieder die Schwarze ein:
»Dann bring uns jeden Tag ein neues Gedicht an den Zaun!«
Das war mir denn doch zuviel!
»Ich bin doch nicht Ihr Sklave, dem Sie so einfach befehlen können!« rief ich. »Wo sind Sie eigentlich her?«
»Aus Tiflis«, sagte die Schwarze, »und meine Kusine kommt aus Kurland.«
Von Kurland wußte ich gar nicht, wo es liegt – wahrscheinlich hatte es was mit Badeorten zu tun –, aber mit Tiflis verband ich den Begriff von Kamelkarawanen mit klingenden Glöckchen und von Sklaven mit klirrenden Armreifen. Das machte mir doch ziemlichen Eindruck.
»Gut«, sagte ich, »ich bringe euch jeden Tag ein Gedicht. Um fünf, wie heute.«
»Danke«, sagte die Blonde mit den schönen Augen.
»Aber du mußt auch was mit Mädchen machen und mit Liebe. Nicht bloß mit gefärbten Blättern und Herbstwind.«
Ich hatte noch nie etwas mit Mädchen und Liebe gedichtet, und meine erste Flamme, die Ilse vom Amtsrichter, hatte so was auch nie verlangt. Aber ich wollte mich nicht blamieren und sagte, ich würde es tun.
»Puschkin der Zweite!« sagte die Schwarze lachend, ehe beide davonliefen.
Ich habe in diesem Herbst 1914 und im darauffolgenden Winter sehr viele Gedichte mit Mädchen und Liebe gemacht; denn je öfter ich die beiden sah, um
Weitere Kostenlose Bücher