Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
Vom Netzwerk:
umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen des Sekundaners aus dieser Zeit wird sich übrigens nur wenig für die Veröffentlichung verwenden lassen, zumal gerade hier wieder starke Zweifel in seine Glaubwürdigkeit zu setzen sind. Aber die eine oder andere Stelle wird man doch heranziehen müssen, weil sie für den Charakter des Dahingegangenen bezeichnend ist. Ich denke eine Auswahl aus den folgenden, kritisch schon durchgesiebten Notizen zu bringen.
    27. Juli
    »Heute war ich oben in L. Eine elende Mittagshitze. Die Bäuerin war noch sehr jung. Ich sagte zu ihr: ›Ihr habt doch noch Gold im Strumpf!‹ ›Ach wo‹, sagte sie. ›Soll ich nachsehn?‹ fragte ich. Sie: ›Wenn du was findest –!‹
    Als ich nachsehen wollte, schlug sie mich auf die Hand. Am Abend gab sie mir aber doch vier Zwanzigmarkstücke mit. Die hat bestimmt noch ihre fünfhundert Mark versteckt. Zu der geh' ich noch öfter.«
    3. August
    »Bei alten Frauen muß man moralisch kommen. Mit Bibel und vaterländischer Pflicht und so. Gestern brachte ich eine richtig zum Heulen. Dann schleppte sie aber ganz schön ran …«
    8. August
    »Heute habe ich beim Direx abgeliefert. Der Alte klopfte mich auf die Schulter und nannte mich Herakles mit goldener Hesperidenbeute. Muß mal im Lexikon nachgucken, was das bedeutet.«
    12. August
    »Die Mädels in unserem Alter haben auf dem Lande schon viel mehr los, als die albernen Stadtzicken und Beamtentöchter. Wie das in so einer Feldscheune an einem Augusttag duftet! Daß es darüber keine Gedichte gibt! Das Mädchen hieß Selma und hatte ganz braune Haut. Ich hab' heute zwar kein Gold heimgebracht, aber zur Not nehm' ich mal was von den Rücklagen, damit es mit den schulfreien Tagen weiter klappt.«
    Von der vorstehenden Notiz werde ich vielleicht nur den letzten Satz veröffentlichen können, der mir aber wichtig erscheint, weil er eine gewisse Erklärung für eine andere Tagebuchbemerkung Brunos von Ende August des gleichen Jahres bietet. Da heißt es nämlich:
    »Der ganze Krieg gefällt mir nicht mehr. Wilhelm hat doch nicht die richtige Forsche. Der läßt sich von seinen alten Säcken im Reichstag einwickeln. Das kann ein recht. – {5} Ende nehmen. Sicher ganz gut, daß ich vorgesorgt und ein bißchen was zurückgelegt habe. Der Direx und das Vaterland haben immer noch genug gekriegt. Und ob das Gold bei den Bauern liegt oder bei mir, ist ja gleich.«
    Bruno Tiches hat, meiner Meinung nach, den Satz ›Eigennutz geht vor Gemeinnutz‹, nach dem er später lebte und den er, in abgewandelter Formulierung, oft in seinen Reden anwandte, hier zum erstenmal praktisch vorgelebt.
    Übrigens gingen die goldenen Zeiten der Unterrichtsbefreiung für ihn rasch zu Ende; denn die sich von Tag zu Tag verschlechternde Kriegslage ließ sehr bald die frömmste wie die leichtfertigste Bauernfrau keine Werte irgendwelcher Art mehr preisgeben. Und der einzige außerplanmäßige schulfreie Tag war nicht einer Siegesfeier zu verdanken, sondern dem Tode unseres alten Professors Zindler, der an der Brennstoffknappheit im November starb, und der – hätte er noch etwas zu sagen gehabt – seine Beerdigung gewiß auf einen freien Mittwochnachmittag gelegt haben würde. Am Tage, da wir die Nachricht von Gorgos Hinscheiden bekamen, tat es uns um den wunderlichen Mann doch sehr leid.
    Bei der Beerdigung des alten Herrn habe ich sogar an Tiches einen sympathischen Zug gefunden, wenn er ihm auch auf etwas absonderliche Weise Ausdruck gab. Als wir im leise rinnenden Regen an der offenen Lehmgrube standen, in die der Sarg hinuntergelassen worden war, und als alle die Lippen zu einem stillen Gebet bewegten, hörte ich Bruno vor sich hinmurmeln:
    »A, ab, abs, sowie auch de,
Coram, clam, cum, ex und e,
Sine, denus, pro und prae
Cum ablativo sunt junctae.«
    Er sagte es ohne Spott und völlig fehlerfrei. Zum erstenmal hätte Gorgo an dem ›Borschen‹ seine Freude gehabt.
    Als wir am Ende der traurigen Feier die feuchte Klassenfahne einrollten und uns schweigend auf den Heimweg machten, sahen wir auf der Kirchhofsmauer mit baumelnden Beinen vier kleine Meisegeier sitzen.

Roter November
    Wir älteren Zeitgenossen besitzen einige Erfahrung in deutschen Zusammenbrüchen. Obwohl der zweite, 1945, total gewesen ist und mich selbst ganz zerschlagen und um Heim und Heimat gebracht hat, kommt mir immer noch der erste, der von 1918, sehr viel trübseliger vor. Vielleicht liegt es daran, daß man damals jung gewesen ist, daß November war

Weitere Kostenlose Bücher