Wir Wunderkinder
so hoffnungsloser verliebte ich mich in alle zwei. Und seit ich von Tante Remmy erfahren hatte, daß die Schwarze eine richtige russische Prinzessin war und die Blonde eine baltische Baronesse, die mit ihren Familien vor dem Kriege aus Rußland geflohen waren, wurde meine Liebe verzweifelt hoffnungslos, weil ich sie aus Respekt nur auf poetischen Umwegen zu bekennen wagte. Da liebte dann in meinen Versen ein Sänger eine Königin – bei Uhland hatte ich etwas Entsprechendes schon vorgedichtet gefunden – oder ein Angler ein gekröntes blondes Meermädchen, wofür ich sowohl Goethe wie die Lorelei benutzen konnte.
Das Mädchen mit den wunderbaren Augen errötete jedesmal, wenn ich ihr ein solches Gedicht durch den Zaun steckte. Sie gab mir auch immer die Hand zum Dank und guckte mich mit den merkwürdigen Augen lange an. Die Schwarze lachte bloß und kräuselte dabei ihre feingebogene braune Nase.
Das Ganze wäre zunächst nur eine Episode wunderbaren Knabenglücks geblieben, wenn ich Wahnwitziger – und darum erzähle ich hier davon – nicht Bruno Tiches gegenüber mit meiner sentimentalen Liebe geprahlt hätte. Wir hatten an dem Tag gerade einen Sieg im Osten zu feiern und kriegten in den beiden letzten Stunden – Latein bei Gorgo und Turnen – schulfrei. Die großen Glocken läuteten, und überall an den Häusern blähten sich die Siegesfahnen im Frühlingswind. In dieser glücklichen Stimmung schwatzte ich mein Geheimnis von den Mädchen aus.
»Prima!« sagte Tiches, »die guck ich mir gleich mal an!«
Ich erschrak furchtbar und sagte, das ginge nicht, und um diese Stunde seien sie auch nie im Park. Aber Bruno sagte, wenn ich nicht mitkäme, ginge er eben allein. Da mußte ich ihn natürlich begleiten.
Die Mädchen waren doch im Park. Ja, ich sah sie jetzt so, wie ich sie selber noch nie gesehen hatte: In Badeanzügen lagen sie in der prallen Mittagssonne am Weiher – ganz braun die Prinzessin und ganz weiß die Baronesse. Sie lagen auf dem Bauch, schwatzten miteinander und erschienen mir wie zwei holde Fabelgeschöpfe.
»Los, rüber!« sagte Tiches und schickte sich an, über den Zaun zu klettern.
Ich erschrak tödlich und betonte noch einmal, die eine sei eine Prinzessin und die andere eine Baronesse.
»Na und?« fragte Tiches. »Mir ist Wurscht, welche was ist. Ich nehme mir auf jeden Fall die Schwarze.«
Obwohl meine inbrünstige Verehrung der zarten Baronesse galt und ich also von dem Klassenkameraden keine Rivalität zu befürchten gehabt hätte, beschwor ich ihn, von seinem Frevel abzulassen. Ich sah die schrecklichsten Folgen voraus – vielleicht sogar eine Gerichtsverhandlung für etwas Ähnliches wie Majestätsbeleidigung. Doch Bruno antwortete nur:
»Wetten, daß –?« Und hielt seine Hand hin.
Aber seit der Sache mit Evelyna wettete keiner in der Klasse mehr mit ihm.
Und jetzt tat Bruno wirklich das Unbegreifliche: Mit zwei, drei Griffen und Tritten war er über den Zaun und lief drüben zu den Mädchen. Natürlich rannten beide weg – dem Waldteil des Besitzes zu, statt in Richtung auf das Schloß.
Bruno folgte ihnen.
Ich wartete, aber er kam nicht mehr zurück. Ein paarmal meinte ich noch, die braune Prinzessin aus Tiflis lachen zu hören.
Am Nachmittag um fünf stand ich mit einem neuen Gedicht am Zaun. Aber keins meiner beiden angebeteten Mädchenwesen kam. Sicher waren sie über meinen Verrat zu tief gekränkt. Ich sah sie bis zu ihrer Abreise im Sommer nur noch gelegentlich und ganz von fern …
Wenn ich jetzt in der Hinterlassenschaft des alten Tiches blättere, überkommt mich wieder der Zorn, weil ich bestimmt weiß, daß seine Tagebucheintragungen über dieses Erlebnis bloße Prahlerei sind. Die erste heißt:
»Am Tage der Durchbruchsschlacht von B. habe ich zwei nette Russenmädels kennengelernt. R. {4} hatte sich nicht rangetraut, aber das war verkehrt, denn die beiden haben sich gräßlich gelangweilt. Wir haben uns ein paar Wochen lang gut amüsiert.«
Diese Episode werde ich bestimmt nicht veröffentlichen, da die Leser von den Hauptbeteiligten, außer dem sich selbst richtenden Tiches, völlig falsche Vorstellungen bekommen müßten. Überhaupt erkenne ich immer mehr, daß das Veröffentlichen von Memoiren eine höchst fragwürdige und – auch für den Herausgeber – zweischneidige Angelegenheit sein kann.
Goldene Zeiten
Die Fahnen auf den Dachböden verstaubten und wurden faltig, seit sie nicht mehr im Siegeswind flatterten. Die Glocken
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