Wir Wunderkinder
Seitenwand des ersten Lastautos stand ›Tod den kapitalistischen Blutsaugern!‹ und ›Hoch Spartakus!‹, und sie haben in Sprechchören alle Kapitalisten für abends acht Uhr ins Volkshaus befohlen. Vater kriegte auch eine Einladung. Mutter weinte, als er wegging. Er kam aber dann ganz vergnügt und ziemlich spät in der Nacht wieder nach Hause, denn sie hatten weder ihn noch einen anderen Blutsauger umgelegt. Im Gegenteil.
Es gab nämlich, wie Vater erzählte, im Volkshaus kein Gericht oder Urteil, sondern bloß eine Revolutionsfeier. Reden wurden gehalten und Lieder gesungen, und die paar alten Musiker von unserer Stadtkapelle, die der Krieg noch übriggelassen hatte, bliesen die neuen revolutionären Weisen so gut oder so schlecht sie eben konnten. Und weil die Deutschen aus einem Volk der Fürstendiener und Kapitalistenknechte jetzt wieder zu einem Volk der Dichter und Denker werden sollten, wie ein Mann vom Arbeiter- und Soldatenrat programmatisch vorlas, führten die Waggoner ein revolutionäres Weihespiel in Versen auf, wobei sie zur Verstärkung der Massen einheimische Statisten engagiert hatten. Vater erkannte Frau Fuchs, unsere Putzfrau, die ihm freundlich zuwinkte, und die proletarische Jugend wurde größtenteils von der Familie Meisegeier gestellt. Die hübsche Evelyna trug ein rotes Halstuch.
Vater sagte, in dem Stück sei nirgends vom Totmachen die Rede gewesen, sondern nur von Goethes und Schillers Spuren, in die nun alle Werktätigen der Stirn und der Faust gemeinsam treten müßten. Dazu wurde getrommelt und auf die Pauke gehauen, und es gab sogar einen kleinen Zwischenfall, als bei dem Bild ›Der Marsch in die rote Zukunft‹ ein alter Arbeiter aus der Marschkolonne ausbrach und über die Rampe sprang, weil er unten seinen kapitalistischen Ausbeuter, einen von den alten Gerbermeistern, stehen sah.
»Mensch, Emil, du hast ja keinen Stuhl!« rief er in proletarischem Grimm, und er marschierte erst dann oben in die rote Zukunft mit, als er unten seinem Emil einen Stuhl verschafft hatte.
Das Weihespiel endete damit, daß auf der Bühne eine rote Pappsonne aufging, die zu allem Überfluß von bengalischem Feuer noch röter angeleuchtet wurde und vor der die Fahnen der Weltrevolution feierlich und über Kreuz gesenkt werden sollten. Daß sie bloß einfach gesenkt wurden, paßte dem Regisseur nicht, der in den Kulissen stand und als Chargenspieler des Landestheaters vom Fach war. Er rief den Fahnenträgern aufgeregt zu: »Kreuzweise! Kreuzweise!«, aber einer der Waggoner antwortete bloß:
»Du mich auch!«
So blieb es bei dem einfachen Senken …
Als bläulicher Bratwurstrauch über die ›Banner‹, wie die Fahnen auf dem Programmzettel genannt wurden, und über die rote Pappsonne hinzog, entspannten sich die, laut Regieanweisung, ehern drohenden Züge der Revolutionäre. Die Bratwürste, die Meister Bürzel im Garten briet, waren eine Spende der Kapitalistenklasse, und da sie am Ende des Krieges etwas sehr Seltenes und Kostbares waren, stürzten sich auch die roten Waggoner nach Schluß der Feierstunde mit Heißhunger darüber her. Ihren Blutdurst stillten sie mit Freibier, das der Direktor der Aktienbrauerei gestiftet hatte.
So endete die rote Befreiungsfeier in einem friedlichen kleinbürgerlichen Fest, von dem sich nur der erzürnte Chargenspieler und Bruno Tiches fernhielten. Die Stadtkapelle, deren revolutionäres Programm erschöpft war, spielte die ›Alten Kameraden‹ und ›Kleine Mädchen müssen schlafen gehen‹. Dabei hakte Frau Fuchs, unsere Zugehfrau, sich bei Vater zum Schunkeln unter und sagte:
»Seh'n Sie, die Revolution hat doch ihr Gutes!«
Unserer kleinen Stadt brachte sie auch in der Folgezeit nichts Schlimmes. Die Grippe ebbte allmählich ab, und die Schulen machten wieder auf. Wir bekamen einen neuen Bürgermeister und einen neuen Gemeinderat. Daß Vater auf der demokratischen Kandidatenliste, wenn auch an letzter Stelle, stand, erfüllte mich mit Stolz.
»Mein Vater ist Zählkandidat«, verkündete ich wichtigtuerisch meinen Klassengenossen.
»Bei dieser Revolution ist überhaupt nichts rausgekommen. Da sitzen ja wieder überall dieselben alten K. – {6} Ich glaube, jetzt müssen wir Jungen mal ran. Ich habe mir geschworen, in Zukunft richtig aktiv zu werden.«
So steht es unter dem Datum vom 6. März 1919 in Bruno Tiches' Tagebüchern. Ostern blieb er in der Klasse sitzen.
Die Nymphe
Es kam ein Frühling, in dem die deutschen Wälder nach Karamelspeise
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