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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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plastischer vor Augen treten.
    Könnte wohl ein Mensch sagen: »An dem und dem Tage ist meine Kindheit zu Ende gegangen«, wenn ihn nicht ein ganz besonderes Ereignis das Ende seiner glücklichen Frühzeit auf Tag und Stunde genau bezeichnen ließe? Ich war in meiner ganzen Entwicklung ein ›Spätzünder‹ gewesen, wie meine Frau es nachher manchmal genannt hat, und es ist weniger sonderbar, daß ich den Verlust der Kindheit mit dem des Elternhauses gleichsetzen mußte – das mag schon oft geschehen sein –, als daß ich ihn mit dem Gewinn eines ersten Liebeserlebnisses bezahlte.
    Mir war zwar bisher das Jahr dieser Geschehnisse in Erinnerung geblieben – auch daß sie sich im Herbst begaben –, aber das Datum weiß ich doch erst wieder aus den Tagebüchern des Bruno Tiches, diesen kleinen Kaufmannskladden, in die er zu jener Zeit vor allem seine oberflächlichen Liebeleien und seine gewissenlosen Geldgeschäfte eintrug 1 {10} .
    Damals schon war der ehemalige Klassenkamerad geschmacklos genug, seine Mädchen oder Frauenspersonen zu numerieren, und eine in Klammern gesetzte Zahl bedeutet bei ihm sozusagen die laufende Nummer seiner prahlerischen Abenteuer. Eine Eintragung unter dem Datum des 20. September wird für die Zeitschriftenpublikation völlig belanglos sein – mir gibt sie den genauen Termin jener unglücklich-glücklichen Brandnacht. Bei Tiches heißt es:
    20. September
    »Gestern habe ich Lily (17) herumgekriegt. Wir sind durch die Hecke vom Tennisplatz gekrochen. Die Nacht war rabenfinster. Später wurde es heller, weil es in der Stadt brannte.«
    Kein Wort darüber, wo es brannte! Das Schicksal seiner ehemaligen Schulkameraden und Freunde schien Tiches zu der Zeit schon ganz gleichgültig geworden zu sein.
    Übrigens muß dieser 20. September ein Sonntag oder irgendein lokaler Feiertag gewesen sein; denn ich erinnere mich, daß ich mit den Eltern vorher bei einem Gartenkonzert gewesen war und daß wir erst gegen Mitternacht heimkehrten. Ich weiß auch, daß ich aus dem ersten, festen Schlaf emporschreckte, als an eins der Fenster vom Schlafzimmer meiner Eltern geklopft wurde, das neben meinem Zimmer lag. Da wir im zweiten Stock wohnten, konnte das Klopfen nur mit einer langen Stange geschehen sein, wie sie in den alten Gassen unserer Stadt noch an einigen Stellen neben Feuerleitern und Eimern aufbewahrt wurden. Ich hörte meine Mutter einen Schrei ausstoßen, dann kam Vater in mein Zimmer gerannt und rief:
    »Es brennt im Nebenhaus.«
    In unserem Nachbarhaus, einem Eckhaus, war eine Seilerwerkstätte, und auf seinem Speicher lag mancherlei an leicht brennbaren Dingen, die wir nun, als wir auf die Straße hinunterrannten, samt dem Dachboden in hellen Flammen stehen sahen. Der Brand mochte nach stundenlangem Schwelen mit einemmal durch das alte Ziegeldach emporgeloht sein. Weil der Herbst sehr trocken gewesen war, fing das dürre Speicherholz doppelt schnell Feuer.
    Es ging nachher alles rasend schnell. Ich erinnere mich, daß ich auch damals noch so kindisch war, neben dem Entsetzen über die Gefährdung der elterlichen Wohnung so etwas wie einen heimlichen Stolz darüber zu empfinden, daß ›unsertwegen‹ die Feuerglocke auf dem Stadtkirchturm ihr eintönig gleichmäßiges Schreckenssignal über die Dächer entsandte und das wohlbekannte Feuerhorn eines durch die Straßen radelnden Feuerwehrmannes auch die letzten Schläfer weckte.
    Die Straße füllte sich mit durcheinanderrennenden, aufgeregten Menschen, und es ging kaum anders zu, als wir das in Schillers ›Glocke‹ lautmalerisch eindrucksvoll aufzusagen gelernt hatten. Unsere Wohnung war voller fremder Menschen, die Einrichtungsgegenstände davontrugen – manche sogar gleich in ihr eigenes Haus. Ich selber schleppte besinnungslos hinaus, was mir in meinem Zimmer gerade vor Augen kam. Onkel Bense war auch schon da und kommandierte mit scharfer Stimme herum, ohne selbst irgendeinen Gegenstand anzufassen.
    Ich weiß sogar noch, daß ich einmal ganz töricht über die Treppe hinauf in die Küche lief, als mir aus meinem Goldfischglas Wasser herausgeschwabbt war, das ich unter der Wasserleitung wieder ergänzte. Dabei spritzte schon durch alle offenen Fenster Wasser aus den roten Schläuchen der Feuerwehr, das sich auf Mutters peinlich gepflegten Fußböden in schmutzigen Pfützen sammelte. Ich sah das herbstlich rote Weinlaub vor meinen Fenstern wehen, röter als sonst – zum letztenmal. Als ich ein Klassenbild von der Wand nahm,

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