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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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rochen.
    Wir fünf aus der Klasse waren keine organisierten Wandervögel, keine ›bündische Jugend‹ mit Wimpel und Abzeichen, sondern wanderfrohe Romantiker aus freier Herzensneigung. Zu unserem Schirmherrn hatten wir den Dichter Eichendorff gemacht, dessen Gedichte wir einander vorlasen oder mit rauhen Jünglingsstimmen sangen. Neben Kochtopf, Suppenwürfeln, fragwürdigem Nachkriegsfett und dem für die Karamelspeise erforderlichen Zucker führten wir Gedichtbände von Rabindranath Tagore mit, dessen fernöstliche Exotik und Esoterik unserer derzeitigen Seelen- und Gemütslage vollkommen entsprachen. Allen fleischlichen Lüsten, angefangen vom mütterlichen Kochtopf, entsagten wir. Unsern Wäscheverbrauch schränkten wir ein. Wir holten unsere Tertianerhosen wieder aus dem Schrank, aus denen wir längst ausgewachsen waren, und schnitten sie über den Knien ab. Dazu trugen wir offene Hemden mit Schillerkragen, die das eindrucksvolle Spiel der Adamsäpfel den Winden des Himmels preisgaben.
    Die bündische Jugend verachtete uns und nannte uns ›wilde Wandervögel‹. Trotzdem waren wir ihnen gegenüber tolerant, da wir unsererseits genug Objekte der Verachtung besaßen. ›Spießer‹ und ›Stenze‹ waren unsere Hauptfeinde, und zu der ersten Kategorie zählten wir Leute, die am Sonntag erst um acht Uhr und später aufstanden, die mittags Schweinebraten mit Klößen aßen, reine Wäsche und womöglich gar steife Kragen trugen und nachmittags Familienspaziergänge unternahmen.
    Zu den ›Stenzen‹ gehörte für uns als markantester Vertreter unser ehemaliger Klassenkamerad Bruno Tiches, der sich, nach seinem vergeblichen Bemühen, die Prima zu erreichen, von der höheren Schule zurückgezogen hatte und Banklehrling geworden war. Seitdem trug er onduliertes Haar, hohe, steife Kragen, violette Socken, ein dünnes Spazierstöckchen mit Hundekopf und frequentierte die drei Likördielen, die in unserem Städtchen nach dem Kriege wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Unseren Gruß erwiderte er nur noch obenhin. Manche in der Klasse behaupteten sogar, Bruno sei in den Abendstunden mit der einzigen fragwürdigen Frauensperson des Ortes gesehen worden {7} .
    Im Frühling standen wir beim ersten Morgengrauen auf, um lange vor Sonnenaufgang mit klappernden Sandalen über das Pflaster der verschlafenen Stadt marschieren zu können. Von Bergeshöhen grüßten wir die aufgehende Sonne, auf bereiften Wiesen lagernd, und darum oft genug auch mit heftigem Zähnegeschnatter. Weit abseits vom Lärm der großen Straßen, auf denen man immer in Gefahr war, einem der sechs Kraftwagen unserer Stadt zu begegnen, kämpften wir uns durch Dickichte zu einsamen Waldwiesen durch, auf denen wir mittags unsere ruhmreich angerußten Töpfe über einem Feuer aus Tannenzapfen und trockenem Reisig aufhängten und voll heiligen Eifers im zähen Karamelbrei rührten – freie Menschen, Verächter der Zivilisation, erfüllt von zarten lyrischen Stimmungen und der Angst vor dem Revierförster.
    Die Abende verbrachten wir gern auf einem einsamen Berglein, das der normale Staatsbürger in späten Stunden mied, weil auf ihm, zwischen verfilztem Buschwerk, einige moosüberzogene Steinbrocken melancholische Erinnerungen an eine längst zerfallene Ritterburg weckten. Hier wollten Einwohner des nahen Dorfes in den Mitternächten oft eine schwebende weiße Gestalt gesehen haben. Auch von Flüsterstimmen und knackenden Zweigen wurde gemunkelt – Erscheinungen, zu denen wohl dörfliche Liebespaare beigetragen haben mögen.
    Wir Naturmenschen fürchteten uns vor solchem Zauber nicht, ja, er gehörte mit zu unserem romantischen Programm. Wir lagerten zwischen den bemoosten Steinen, sangen geistliche und weltliche Nachtlieder zu Andreas' Gitarre – leider konnte er darauf nur die C-Dur- und g-Moll-Griffe – und grüßten den aufgehenden Vollmond {8} mit lodernden Feuern, über denen Pilzsuppen, Erbswurst- und Königinsuppen brodelten, die alle gleich schmeckten.
    In einer dieser traditionellen Vollmondnächte nach einem sehr schwülen Sommertag hatten wir ein wunderbares Erlebnis. Inmitten einer Wiese im Schatten unseres Burgbergleins lag ein Weiher. Er wurde nachts ebenso gemieden wie die Ruine, weil ihn ab und zu schwermütige Selbstmörder für ihr Vorhaben benutzten. So erschraken wir nicht wenig, als wir eine weiße Gestalt auf dem dunklen Wasser treiben sahen. Andreas setzte schon zu einem Hilfeschrei an, als wir ihm gerade noch rechtzeitig den

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