Wir Wunderkinder
oder gerade die Grippe grassierte. Wahrscheinlich kommt sogar alles dies zusammen, um das Erinnerungsbild so hoffnungslos grau zu machen.
Den 9. November verbrachte ich mit leichtem Fieber im Bett. Es war ein Tag mit langem, zähem Frühnebel, der sich gegen Mittag in Nieselregen auflöste. Vor meinem Fenster wehte eine Spalierranke mit einem roten Blatt hin und her, das letzte Blatt vom wilden Wein. Daß Rot die Farbe dieses Monats werden sollte, merkte ich erst am nächsten Tag, als Mutter sich auf mein Bett setzte, um von dem kleinen türkischen Fähnchen, das wir in den ersten Siegesjahren immer mit vor den Fenstern gehißt hatten, Stern und Halbmond abzutrennen. (Nach jedem deutschen Zusammenbruch wird etwas von roten Fahnen abgetrennt!) So verwandelte eine brave Hausfrau das Banner des Propheten in das der Weltrevolution, das zu hissen den Bürgern der Stadt vom regierenden Arbeiter- und Soldatenrat befohlen wurde.
Viel Staat war in unserer kleinen Stadt mit der Revolution nicht zu machen. An kapitalistischen Ausbeutern und Konzernherren hatten wir nichts Rechtes vorzuweisen. Die ortsansässigen Lederfabriken waren meistens aus Handwerksbetrieben hervorgegangen, und die Fabrikanten, die sich zehn Jahre vorher noch Gerbermeister genannt hatten, rührten, in Holzpantinen und Lederschürzen, mit ihren Arbeitern in der gleichen trüben, stinkenden Brühe herum. Oft duzten Lohnempfänger und Lohnzahler einander noch. So etwas ergab keinen überzeugenden revolutionären Elan.
Richtige Fabrikanten, wie Kienzel, die bei vaterländischen Feiern Sporen trugen, waren selten, und auch Kienzel kehrte brav, mit abgetrennten Schulterstücken, aus seiner Berliner Kriegsdienststelle nach Hause zurück, um, zusammen mit einem Pfarrer und einem Studienrat, eine Ortsgruppe der Deutschen Demokratischen Partei zu gründen.
Ein Majorsschulterstück und ein Eisernes Kreuz legte Bruno Tiches auf meine Bettdecke, als er mich an einem der ersten Revolutionstage besuchen kam.
»Solches Zeug liegt jetzt haufenweise auf der Straße!« sagte er. »Willst du's?«
Ich nickte und tat die beiden Embleme zu Stern und Halbmond in die Nachttischschublade.
»Mensch, die haben hier keinen Mumm!« schwatzte Bruno munter weiter. »Statt daß sie mal ordentlich aufdrehen, seit das schlappe Fürstengesindel fortgejagt ist! Na, es heißt ja, in den nächsten Tagen rücken die Waggoner hier an. Da weht dann ein anderes Windchen.«
»Wer sind die Waggoner?« fragte ich den Klassenkameraden, der sich aus einem ergebenen Untertanen unseres Großherzogs in einen blutrünstigen Marat verwandelt zu haben schien.
»Die Arbeiter von der Waggonfabrik aus der Hauptstadt. Solche Kerle! Die haben schon mehr als einen umgelegt.«
Mich entzückten solche Vorstellungen gar nicht sonderlich, und als Tiches gegangen war, begann mein Fieber wieder zu steigen. Nachts hatte ich wüste Träume. Aus unserem Badewannenablauf tauchte mein versunkener Spielsoldat wieder auf, der Kürassier mit dem schwarzweißen Fähnchen. Aber plötzlich wurde seine Uniform blutrot. Onkel Bense blies die Kautabakbacken auf, rief »Attila! Attila!«, und ich erkannte, daß es gar nicht Onkel Bense war, sondern Bruno Tiches. Mit einem Male füllte sich die ganze Badewanne mit roten Männern, die unentwegt aus dem Ablauf heraufquollen, und es waren auch keine Ulanen oder Husaren mehr, sondern die roten Waggoner, die sich unter Tiches' Oberbefehl zu einem Generalangriff auf mein kapitalistisches Bett rüsteten. Am nächsten Morgen mußte Mutter wieder den Arzt holen.
Daß ich in jenen Novembertagen nicht sehr gut ausgesehen habe, finde ich jetzt in Brunos Aufzeichnungen nachträglich bestätigt. Da heißt es unter dem Datum vom 12. November:
»Gestern habe ich R. besucht. Der wird's wohl nicht mehr lange machen. Sah aus wie Braunbier und Spucke. Solche Muttersöhnchen passen auch nicht mehr in die neue Zeit. Morgen kommen endlich die Waggoner. Das gibt ein Blutgericht.«
Tiches' Prophezeiungen sind nicht eingetroffen – ich habe ihn immerhin überlebt. Und auch mit dem Blutgericht der Waggoner ist es nicht ganz so schlimm geworden. Sie sind zwar mit zwei klapprigen alten Lastautos und vielen roten Fahnen angekommen, und ich habe sie auch hinter den Gardinen hervor ansehen dürfen. Die meisten trugen abgeschabte alte Uniformen, hatten von Verdun her oder aus Galizien graue Schützengrabengesichter und waren vom Internadonale-Singen schon ziemlich heiser. Auf einem roten Tuch an der
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