Wir Wunderkinder
Mund zuhalten konnten. Denn bei näherem Zusehen war die Gestalt nicht tot. Sie lag auf dem Rücken, und man konnte sogar erkennen, daß sie mit den Armen und Knien leichte Schwimmbewegungen machte.
»Eine Nymphe«, sagte einer von uns Primanern.
Aber unsere naturwissenschaftliche Aufklärung zwang uns, das Phänomen näher zu ergründen. Auf der immer noch warmen, trockenen Wiese pirschten wir uns auf allen vieren näher heran, nachdem wir die Rucksäcke abgelegt hatten, deren klappernde Kochtöpfe uns hätten verraten können.
»Es ist ein Mädchen«, sagte ich.
»Ohne Badeanzug«, sagte Andreas.
Wir gestanden uns hernach, daß wir alle noch kein Mädchen so gesehen hatten. Und weil so etwas nicht einmal zum künftigen Pensum der Oberprima gehörte, blieben wir hinter einem Schutzwall von Sträuchern liegen und schauten, was da weiter geschähe.
Es geschah eigentlich nichts. Das schlanke, weiße Mädchen stieg aus dem Weiher – sie war unendlich viel schöner als die antiken Gipsdamen mit dem Feigenblatt, die auf unserm oberen Schulflur standen –, und wir stellten jetzt erst fest, wie unkleidsam solch ein Feigenblatt ist. Die Gestalt, von der Wasser in silbernen Perlen niederrann, schimmerte im Mondlicht. Sie kam uns so unirdisch schön vor, daß keiner von uns sie sich in einem bürgerlichen Haus oder gar als Schülerin des vormaligen Großherzogin-Eleonore-Töchterstifts {9} vorstellen konnte.
»Es ist doch eine Nymphe«, flüsterte Andreas beklommen, und er bekam wieder einmal seinen ›gasgefüllten Ausdruck‹, den wir lange nicht mehr an ihm wahrgenommen hatten.
Indessen kam das Mädchen näher, mit federnden Schritten, und wir sahen, daß dicht vor uns ihr Kleiderbündel lag. Aber sie zog sich nicht an. Sie setzte sich neben das Bündel, stützte sich rückwärts auf die Arme und hielt ihr Gesicht dem Mond entgegen, als sei er die Sonne, von der sie sich trocknen ließe. Wir wagten kaum noch zu atmen. Alle hatten das Mädchen erkannt.
Als die leise wehende Nachtluft sie getrocknet hatte, zog die Nymphe sich an und ging. In entgegengesetzter Richtung. Wir durften wieder atmen, wieder sprechen. Aber sonderbarerweise flüsterten wir nur.
»Evelyna Meisegeier«, sagte ich.
»Daß die so schön ist«, sagte Andreas andächtig.
Ja, es war das Mädchen aus der Wohnhöhle gegenüber dem Schulhof gewesen, das Mädchen, das in Gorgos Lateinstunde unter Bruno Tiches' Bank gekauert hatte – gegen Geld. Jetzt war aller Nixen- und Melusinenzauber um sie, von dem wir so oft in unseren Liedern gesungen hatten.
Doch nun wir wußten, was der wahre Zauber solcher Schönheit ist, konnten wir plötzlich nicht mehr davon singen. Wir umstanden unser Feuer und sangen falsch, weil es uns die Stimmen verschlug. Andreas griff sogar beim g-Moll dauernd daneben. Die Suppenwürfel für das nächtliche Mahl hatten wir in der Aufregung zerdrückt und unter Tannennadeln zerkrümelt.
Wir gingen von dieser Nacht an jedesmal zum Weiher, ehe wir zur Mitternachtsfeier auf unseren Burgberg kletterten. Aber nie mehr stieg eine weiße, schimmernde Gestalt ans Ufer.
Ich bekam jetzt mit einem Mal Appetit auf Beefsteaks und Lust zu tanzen. Eines Sonnabends suchte ich heimlich eine der für Schüler verbotenen Likördielen auf.
»Na, Muttersöhnchen«, rief Bruno Tiches gönnerhaft, als er mich eintreten oder besser mich beim Einschleichen sah. »Kriegst du endlich Interesse für das wirkliche Leben?«
Er bestellte mir an diesem Abend Liköre in vielen giftigen Farben, bis mir schlecht wurde.
»Ich spekuliere jetzt ganz groß«, prahlte er, »und Goldreserven habe ich auch noch. Von damals – weißt du – von den Dörfern.«
Danach ›legte er einen Schieber aufs Parkett‹, wie er das fachmännisch nannte.
Aber obwohl die hier anwesenden ›Damen‹ alle in bürgerliche Häuser oder das vormalige Großherzogin-Eleonore-Töchterstift gepaßt hätten, mochte ich nichts mit ihnen zu tun haben. Evelyna, die ich hier zu treffen gehofft hatte, fand ich nicht. Nachher freute ich mich sogar, daß ich sie nicht gefunden hatte. Nymphen gehörten nicht in Likördielen.
Von Brunos peinlich detaillierten Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit werde ich nur wenige Worte auswerten:
»Hatte nie gedacht, daß ein verlorener Krieg so eine prima Sache ist!«
Das Feuer
Es ist seltsam, wie mir bei Durchsicht der oft so dummen und simplen Aufzeichnungen des Bruno Tiches mein eigenes Leben und meine frühen Erinnerungen immer farbiger und
Weitere Kostenlose Bücher