Wir Wunderkinder
Silberstoff, das ich aufhob.
Ich spürte, als ich davonging, daß etwas aufgehört und etwas anderes begonnen hatte. Auf der Straße stand der Herr Gaswerksdirektor mit seinem Sohn. Andreas lief auf mich zu und sagte, seines Vaters Arbeiter hätten die Rohrleitungen absperren müssen, damit eine Explosionsgefahr vermieden würde. Ich schob ihn weg, weil mir sein albernes Geschwätz zuwider war.
Von der gegenüberliegenden Straßenseite schaute ich zu den leeren Fensterhöhlen meines Zimmers auf, neben dem verkohlte Weinranken niederhingen, und empfand keinen Schmerz dabei.
Die Episode vom Putschisten Polterzeh
(Kann überschlagen werden – sollte aber nicht!)
In Bruno Tiches' Aufzeichnungen gibt es zwei Vermerke über den Gendarmeriewachtmeister Polterzeh. Die eine stammt vom November 1913, ist also kurz nach dem Luftballonflug nach Leipzig gemacht worden und lautet:
»Hauptmann Polterzeh {11} sieht wie unser Kaiser aus. Die Schnurrbartspitzen stehen ihm ganz steil hoch. Wenn er vorüberreitet, grüße ich ihn. Dann guckt er vom Pferd runter und salutiert. Dann denke ich, es ist der Kaiser, der mich grüßt.«
Die zweite, aus dem Jahre 1920, ist wesentlich kürzer:
»Gendarm Polterzeh {12} hat sich dem Kapp-Putsch angeschlossen. Solche Pfantasten {13} gefährden unsere Wirtschaft. Ich bin gerade bei Hugo Stinnes eingestiegen.«
Diese beiden Notizen könnten belanglos erscheinen, da sie nur die Entwicklung meines Klassenkameraden vom romantischen, kaisertreuen Knaben zum realistischen Aktionär, d.h. Banklehrling, aufzeigen. Wenn ich aber rückblickend den gesamten Weg Polterzehs bis in unsere jüngste Vergangenheit überschaue, meine ich doch, man müsse sie mit in den Tatsachenbericht aufnehmen. Denn Wachtmeister Polterzehs gewundener Lebenspfad ist nun einmal typisch für gewisse Laufbahnen in einem höchst bewegten Menschenalter deutscher Geschichte, und zum andern weist er einige merkwürdige Parallelen zu dem – natürlich viel glanzvolleren – Aufstieg unseres Bruno Tiches auf. Daran ändert auch die abfällige Bemerkung Brunos aus dem Jahre 1920 nichts.
Daß der Gendarm Polterzeh vor dem ersten Weltkrieg ein Idol der Jugend unseres Städtchens war, ist mir noch gut erinnerlich. Wenn der sehr junge Wachtmeister damals in seiner leuchtend grünen Uniform, mit blank geputzten Reitstiefeln, Koppel und Bande-Her, im Sattel hoch aufgerichtet, an uns Knaben vorüberritt, sahen wir in ihm einen bedeutenden Widerschein vom Glanz des Kaiserreichs. Die etwas ältere weibliche Jugend mag für den schneidigen Junggesellen noch andere Gefühle gehegt haben als die nationaler Ehrfurcht.
Zusammen mit Oberwachtmeister Tritz bildete Polterzeh die bewaffnete Macht unseres Städtchens. Tritz war nur wenige Jahre älter, aber er war verheiratet und saß – gewiß nicht aus diesem Grunde – ein wenig schlapp im Sattel und wirkte überhaupt, wegen seines bärbeißigen Wesens, viel älter und unansehnlicher als sein ihm untergebener Kollege. Immer sah man Polterzeh als den eigentlichen örtlichen Repräsentanten des Reiches an, was ihn auch veranlaßte, bei den festlichen Umzügen an Kaisers Geburtstag und am Sedantag eine Pferdenasenlänge vor Tritz zu reiten.
Im Frühjahr 1914 gewannen beide Männer hohes Ansehen im Landkreis, als sie einen dörflichen Schweinedieb in einer kühnen Attacke einkreisten, die unsere Zeitung zu der Überschrift entflammte: »Der alte Reitergeist von Mars-la-Tour lebt noch!« Zwar hatte, wie man später erfuhr, der joviale Tritz den Dieb in einer Feldscheune gestellt, vor der er zu einem privaten Anliegen abgesessen war, aber die Legende wand ihren Lorbeer doch um das Haupt Polterzehs, der in hinreißendem Galopp sein Pferd und einige Hektare junger Saat zusammengeritten hatte. In dem bald danach ausbrechenden ersten Weltkrieg konnte man Kavallerieattacken freilich nicht mehr gebrauchen. Außerdem wurden die beiden Gendarmen im Interesse der inneren Sicherheit vom Heeresdienst reklamiert.
Polterzeh, der nach der Abdankung des Kaisers seinen Schnurrbart stark beschnitt, ritt in der Weimarer Republik zunächst auf dem Boden der Tatsachen weiter. Erst als im Jahre 1920 ein gewisser Herr von Kapp mit rechtsradikalen Anhängern putschte, schloß der Gendarm sich dem Aufstand gegen die junge Republik an. Zum erstenmal brach hier offen seine Abneigung gegen den älteren Kameraden durch, der treulich jeden Eid hielt, zu welchem ihn die wechselnden politischen Systeme zwangen, und der es
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