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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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spürte ich, daß sie ganz warm war …
    In jener Schreckensnacht sind insgesamt fünf Häuser abgebrannt – zwei auf unserer Seite, das große Eckhaus des Seilermeisters und noch zwei an der anderen Straße.
    Trotzdem konnte von unseren Möbeln noch eine ganze Menge gerettet werden, und der kleine Feuerwehrhauptmann Fielitz, den ich angesichts der Katastrophe zu erstaunlicher Größe aufwachsen sah, ließ alles Mobiliar in die Gärten hinter den brennenden Häusern bringen, wo nur den Feuerwehrleuten der Zutritt gestattet wurde. Im übrigen stand in jedem offenen Haustor ein städtischer Polizist, der ›Unbefugten‹ das Eintreten verwehrte.
    In diesem traurigen Fall war ich befugt. So verfolgte ich in unserem großen Stehspiegel, der an einem Apfelbaum lehnte, den Brand des eigenen Hauses wie ein Panoramaschauspiel. Ich sah das schwarze Büfett, verstaubt und voller Wasserflecken, in einem blühenden Asternbeet stehen, und der gipsweißen Bismarckbüste, die man daraufgestellt hatte, war von irgendeinem witzigen Helfer meine alte grüne Tertianermütze aufgesetzt worden. Einen sonderbaren Anblick boten die roten Plüschsessel und das dazugehörige Sofa mit seiner unbequem geschwungenen Rückenlehne, die auf ihren verschnörkelten Beinen unsäglich hilflos zwischen Kohlköpfen und ausgewachsenen Salatstauden herumstanden.
    Ich setzte mich auf das Sofa, abgewandt von den brennenden Häusern, und starrte in den roten Himmel. Ich hörte das klagende Heulen der Hofhunde aus der Nachbarschaft, aufgeregtes Menschengesumm von der Straße und die Kommandos und Hornsignale der Feuerwehrleute. Dazwischen immer das Prasseln der gefräßigen Flammen, Wasserzischen und ab und zu das Krachen einstürzender Mauern. Die Tränen, die ich auf meinen Backen spürte, kamen nicht nur vom beizenden Rauch, der uns zuletzt den Aufenthalt im Treppenhaus unmöglich gemacht hatte. Ich war vom ständigen Treppauf, Treppab müde und fühlte mich hoffnungslos zerschlagen.
    Plötzlich sah ich etwas seltsam silbern Schimmerndes durch den Garten gleiten – ein Wesen, dessen Bewegungen ich sogleich anmerkte, daß es unbefugt war. Und wer anders hätte wohl durch den Kordon grimmiger Schutzmänner und Feuerwehrleute durchzubrechen gewagt, als ein Mitglied der Familie Meisegeier? Gerade diese asoziale Familie hätte allen Grund gehabt, Verdacht zu meiden.
    Das Silberglänzende, das wie eine Schlange dicht an mir vorbeiglitt, war Evelyna. Nie hatte ich sie so nahe gesehen. Sie brach vor Schreck fast in die Knie, als ich aus dem Prunkstück unseres Salons aufsprang.
    »Ich hab' das im Garten gefunden«, sagte sie mit angstweiten Augen und deutete auf ein Stück Stoff um ihre Schultern.
    Noch nie auch hatte ich Evelynas Stimme gehört. Sie war sehr tief und ohne den weichlich singenden Dialekt meiner Heimat.
    »Ich schenk' es dir«, sagte ich, »es gehört meiner Mutter.«
    Es war ein Rest Silberlame, der übriggeblieben war, als Mutter sich voriges Jahr für ein Stiftungsfest ein neues, sehr prächtiges Abendkleid hatte machen lassen.
    Evelyna sagte nicht ›danke‹. Sie ließ das Stoffstück von der Schulter gleiten und wollte weglaufen. Ich hielt sie bei den Händen fest und legte ihr das Silberglitzernde, das vom Widerschein der Flammen einen seltsam rötlichen Schimmer empfing, wieder um. Dabei berührte ich ihre Haut. Sie war weich und kühl, und mich überlief ein Gefühl, wie ich es nie gekannt hatte. Ich packte das Mädchen und zog es auf das Prunksofa nieder. Ich küßte Evelyna und spürte, wie ihre Lippen sich öffneten. Ich sagte ihr, daß ich sie im Weiher gesehen hätte …
    Einmal hörte ich, daß man mich rief. Ich antwortete nicht. Einmal wurde ein Schlauch hinter uns vorbeigeschleift, der aus einer undichten Stelle eine kleine Sprühfontäne über uns niedergehen ließ. Aber die Feuerwehrmänner konnten uns nicht sehen.
    Es war eine unbeschreibliche Nacht, in die immer wieder die Signale ›Wasser halt!‹ und ›Wasser marsch!‹ hineingellten, und nach deren prallem Feuerlicht das erste Frührot blaß und armselig wirkte. Ich fand auf Evelynas Wangen Rußspuren von meinen Händen, die ich wegwischte, und ihr Gesicht kam mir mit einem Mal fremd und alt vor. Sie rannte weg, ehe ich sie noch einmal küssen konnte.
    Ich rief ihr nach, wie sie am ehesten ungesehen davonkommen könnte, und sah ihre Schritte schwer werden, weil die Gartenerde vom Löschwasser aufgeweicht war. Vor mir lag, verschmutzt und zertreten, das Stückchen

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