Wir Wunderkinder
gewissen Kreise.«
12. Juli 1922
»Mutter schreibt, daß Meisegeier sitzt. Sechs Wochen. Wegen einem Einbruchsversuch bei S. Der hat einfach zu früh losgeschlagen. Einzelaktionen sind überhaupt falsch. Aber in der Gesinnung ist der Junge goldrichtig. Am liebsten ist mir in München das {20} -Bier. Das hat eine richtige männliche Würze.«
1. September 1922
»Ich habe gestern den Herzogstand (1.731 m) bestiegen. Die Natur ist erhaben. Mizzi ist ein Aas. Katholisch. Die Mark fällt rapide. Mit ›Saxo-Albingia‹ klappt das zum neuen Semester. Ich habe mir gestern schon das Haus angesehen. Zum 1. November trete ich an.«
3. September 1922
»Gestern zeigte mir ein Freund auf der Straße von weitem einen Mann in einer Windjacke. Er sagte: ›Da ist der A.H. {21} Der hat was los!‹ Man spürte das auch von hinten.«
Die neuen Kontinente
Wie anders als Bruno Tiches sah ich die hochzupreisende Stadt München am Anfang meines ersten Semesters! Sie war für mich ein einziges Festspiel, bei dem mitzuwirken ich vom Schicksal beglückt war. Oft hatten Himmel und Erde gleichzeitig weiß-blau geflaggt, und die Odeonsplatz-Tauben ließen sich von Glockentönen und militärischen Blechmusikwalzern wiegen. Manchmal auch ging ich unter einem stählernen Maienföhnhimmel selbst wie gewiegt, schwankend, mit ein wenig feuchten Händen und blutleerem Gehirn. Der warme Wind kam aus Italien, grüßte vertraute Rundbögen und barocke Voluten brüderlich von den Städten an Tiber, Etsch und Po.
Anders als Bruno, war ich schon vorher einmal in Bayern gewesen, und die Sprache dort war mir von der Mutter her vertraut. Nun wurde mir der Viktualienmarkt zur Hochschule freundlich-behäbigen Volkstums, einer derb heiteren Einlage im bajuwarischen Dauerfestspiel. Ich schlug Gedankenbrücken von der großkalibrigen Marktfrau, die lobpreisend über eine Gänsebrust oder einen Entenpürzel strich, zu dem greisen Literarhistoriker in der Universität, der in genüßlicher Rezitation den Weg eines Wielandschen Flohs von einem weißen Mädchenbusen bis in Gegenden verfolgte, die er mit leichtem Stimmtremolo ›obszön‹ nannte.
Überall war Leben, das mitzuleben mir eine Lust wurde. Immer auch schien es mir Maskerade. Man sah Herren mit gepflegten Vollbärten und goldenen Uhrketten gemessenen Schritts die Ludwigstraße einherschreiten, die man für Ministerialräte hielt. Aber der Freund von der Akademie erzählte, wie dann diese vermeintlichen Räte sich würdig der Hosen, Unterhosen und Wollsocken entledigten, um splitternackt, mit graugelocker Brust, vor Malstudenten und Studentinnen oder vor knetende Bildhauer zu treten, die sie zu Wilderern, Tiroler Freiheitshelden und schalentragenden Flußgöttern verarbeiteten.
Junge Mädchen, die gleichfalls auszogen, sich auszuziehen, wurden mehr um ihrer selbst willen abgebildet, und man konnte das ehrbare Fräulein aus dem vierten Stock nachher in Ausstellungen und Rahmenhandlungen in vielen vorteilhaften Positionen und aus den gewagtesten Neigungswinkeln heraus begutachten. Manchmal wurden sie auch expressionistisch zerquetscht, aber nur selten als abstraktes Frikassee feilgeboten. Man hielt sich in jenen fröhlichen Jahren noch gern ans faßbar Leibliche, weshalb die gewerkschaftlich organisierten Modellmädchen ihren eigenen Faschingsball abhielten, bei dem auch Freunde ungemalter Akte auf ihre Kosten kamen.
Dann aber wiederum begegnete man Männern in dieser Stadt, die wie pensionierte Holzhackerbuam aussahen, mit schrundig verwitterten Gesichtern, erdverbundenen Kniekehlen, Lederhosen und Wadelstutzen, mit ständig zum Jodeln geblähtem Kehlkopf – das waren die wirklichen Ministerialräte …
Die Ludwigstraße gehörte der Universität. Die weißblaue Straßenbahn fuhr dort gleichsam durch exterritoriales Gebiet. Autos waren höchst selten. Der Verkehr spielte sich vorwiegend auf den Gehsteigen ab und wurde von Ebbe und Flut der Vorlesungsstunden bestimmt. Mitunter kam ein begüterter Student auf einem Fahrrad.
Königliche Erscheinungen wurden mit ehrfürchtigen Fingern den Fremden gedeutet. Ein mächtiger Mann, von Süden nach Norden die Ludwigstraße passierend, mit dem kühnen Blick des Karavellenkommodores und Erdteilentdeckers, das Siegestor auf seinen dürftigen Schmuck hin begutachtend – das war der große Kunstgelehrte Heinrich Wölfflin. Von Norden nach Süden, vom Siegestor her aufkreuzend, schritt ihm ein anderer entgegen, als wunderbare Mischung von katalonischem
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