Wir Wunderkinder
Bergbauern und römischem Kardinal – man erklärte ihn als den sprachmächtigen Dichtergelehrten Karl Voßler. Die beiden erschlossen mir ungeahnte Kontinente über die fünf bekannten hinaus …
›Der Wölffli‹« las im Auditorium Maximum von elf bis zwölf. Bei ihm hörte ich meine erste Vorlesung. Schlag elf saß ich in dem gewaltigen amphitheatralischen Raum, mich wundernd, daß er so leer war. Ein altes Männchen mit großen Ohren, das an einem leise zischenden Projektionsapparat hantierte, sprach mich freundlich an:
»San 'S g'wiß zum erstenmal auf der Uni, Herr?«
»Ja«, sagte ich ungern, weil ich den Eindruck eines Greenhorns vermeiden wollte.
»Na, da wern 'S Ihre Freid hab'n beim Herrn Professor«, sagte der muntere Alte, indem er Lichtbilder sortierte und nach irgendwelchen Merkzeichen drehte.
Ich bestätigte ihm gern, daß ich über die geistige Bedeutung des berühmten Lehrers unterrichtet sei.
»Beim Wölfflin kemma nämlich die scheensten Maderln von der ganzen Uni z'samm«, erläuterte er seinen vorhergehenden Satz. »Vui Ausländerinnen, auch aus Preißen. Schick, mit Bubiköpf' und so kurze Rock'.«
Ich freute mich, daß der freundliche Kunsthelfer dem Leben nicht entfremdet war. Er schwatzte fröhlich weiter, indes sich schon die Bankreihen füllten.
»Schaug'n 'S«, sagte er und hob ein Bildtäfelchen ans Licht. »Gotische Kathedralen mag i, weil da die Türm' immer oben san. Aber so a romanisches Tympanon – des is dir schon a Fressen. Und die grausligen Schimären – nie woaß ma da, was oben oder unten is. Nacha lachen die Studenten, wann die Viecher nach oben spucken – und der Herr Geheimrat wird nervös.«
Jetzt gingen oben und unten die Türen dauernd auf und zu. Alles deutete auf ein ausverkauftes Haus. Neben mich setzte sich ein Mädchen, das die schönen Prophezeiungen meines Mentors aufs erfreulichste erfüllte. Eine süße, dunkeläugige Romanin, wie mir schien.
Es wurde finster im Saal. Ohrenbetäubendes Füßegedonner begrüßte den Kunstwissenschaftler, der mit bedachtsam schwer tropfenden Worten schweizerischer Prägung gotische Wunder zu deuten begann. Die Ohren meines alten Freundes wurden von einem seitlich entweichenden Lichtstrahl aus dem Projektionsapparat magisch durchglüht.
Die schöne Romanin zu meiner Linken versuchte, in dem schwachen Licht eifrig mitzuschreiben. Einmal stieß sie mich mit dem Ellbogen an und entschuldigte sich flüsternd bei mir. Auf sächsisch.
Wir gingen nachher zusammen aus dem Hörsaal und die Leopoldstraße entlang. Meine neue Bekannte hieß Ruth, stand auch im ersten Semester und fragte mich manches, was ich selbst nur ungenau wußte. An ihre Fragen hängte sie oft ein neckisches ›Newwah?‹ als barocken Schnörkel. Sie stammte aus Glauchau und war wirklich süß. In den folgenden Wochen hungerten wir zusammen, lebten von Mensa-Kakao, Cornedbeef und der Liebe.
Eines Vormittags, als wir beim Geheimrat Wölfflin gerade über Adam und Eva vom Bamberger Domportal sprachen, hatte ein stämmiger Mediziner in fortgeschrittenen Semestern und von offensichtlich agrarischer Herkunft meinen Platz eingenommen. Die Romanin aus dem Vogtland, des Kakaos und des Cornedbeefs, aber doch wohl nicht der Liebe überdrüssig, grüßte mich nur noch obenhin und verscheuchte mich auf die Galerie.
Ich mußte von Stund an meine volkskundlichen Studien wieder als Einzelgänger machen und mein Mensa-Essen allein einnehmen.
Einmal, im Spätherbst schon, ging auf der Ludwigstraße mein ehemaliger Klassenkamerad Bruno Tiches an mir vorüber. Er hatte knallende Stiefel und etwas Uniformähnliches an. Ich rief ihm frohgemut ein landesübliches »Grüß Gott!« entgegen. Er antwortete mit:
»Heil!«
»Wen?« fragte ich, indem ich mich nach ihm umdrehte.
Er stiefelknallte davon, ohne mich eines weiteren Blickes oder Wortes zu würdigen.
Nachtstücke (I)
»Die Partei hat mich beauftragt, die Professoren in der Uni ein bißchen zu überwachen. Meistens ist das stinklangweilig. Aber es ist wichtig für die Zukunft.«
Diese lapidare Eintragung des Bruno Tiches erfüllt mich noch heute mit Zorn und Abscheu über ihn und sein Tagebuch. Denn ausgerechnet bei dieser widerwärtigen Aufgabe lief er mir über den Weg, und ich mag töricht genug gewesen sein, ihm arglos manches zu bekennen, was er für seine Auftraggeber zu hören wünschte.
Es war ein Tag am Anfang des Sommersemesters, meines dritten Münchner Semesters, und das Wetter war so über alle
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