Wir Wunderkinder
Baronesse im Wagen von Frau Untermüller als ausgeblichenes Revuegirl aufgezäumt wurde, band man mir eine weiße Schürze um, und eine dicke Frau mit einem Schnurrbärtchen auf der Oberlippe lehrte mich, von einem Block süßes, klebriges Zeug abzuschaben und es so aufs Papier zu garnieren, daß es ›nach vui‹ aussah, aber eben doch nicht zu viel war.
Mein Geschäft ging mäßig, wie denn überhaupt dieses Oktoberfest am Ende der Inflationszeit kein glanzvolles Ereignis war. Aber es gab doch um mich herum eine Fülle von Licht, Lärm und Gelächter. Nach fünf Stunden ungewohnten Stehens verkaufte ich meinen türkischen Honig immer mechanischer. In seinen Farben fand ich Erinnerungen an Paolo Veronese, wie ich ihn aus der Kunstgeschichte kannte, und ich wurde von einem Gefühl heftiger Eifersucht bewegt, als ich daran dachte, daß Wera jetzt in der schrecklichen Abendnummer mit den fragwürdigen Fragezeichen mitwirken müsse.
Bei so widersprechenden Empfindungen vergaß ich die Mahnungen meiner Chefin, und als bei der Abrechnung der Honigblock nachgemessen und meine Einnahmen gezählt wurden, errechnete sie eine Unterbilanz, die sie von meinem vereinbarten Lohn abzog. Mit einigen kümmerlichen Milliarden schlich ich mich davon, fest entschlossen, die Stellung aufzugeben. Ich wollte nicht auch noch, wie mein Vorgänger, aus Ärger vom Schlag getroffen werden.
»Was macht ihr denn in der Nummer mit den Fragezeichen?« fragte ich Wera, als ich sie von Herrn Untermüllers Schaubude abholte.
»Sieh dir das Programm an«, antwortete sie.
Ich tat es am nächsten Abend, an dem ich ja nun selbst stellungslos geworden war. Ich fand mich vor dem Etablissement ›Kraft und Schönheit‹ ein, nachdem ich schon von weitem Herrn Untermüllers heisere Stimme hatte über den Platz schallen hören. In einer Fülle bunten Lichts flimmerten und glitzerten die Kostüme von vier Orientalinnen im Paillettenglanz und fanden die Bewunderung der vor dem Bretterpodium versammelten Zuschauer. Wera, die für landläufige Münchner Bürgerbegriffe zu mager sein mochte, sah für mich wie eine richtige Prinzessin aus. Ich fühlte mich geehrt, als sie mir mit einem Auge zublinzelte.
Das Programm war seine paar Milliarden Eintrittsgeld wert. Herr Untermüller, in einem Leopardenfell als Tarzan kostümiert, mit klirrenden Medaillen auf der Brust, stemmte unerhörte Gewichte, und die Muskelberglandschaft seiner Arme ließ Frauen erschauern. Dagegen war Herr Breithaupt ein erstaunlich dünnes, drahtiges Männchen, das gleichmütig Eisenketten zerbiß und Nägel fraß. Wenn es nach der Währungsumstellung wieder harte Münzen gebe, prahlte er, mache er sich anheischig, auch solche zwischen den Fingerknöcheln zusammenzubiegen.
In Erwartung der fragwürdigen Haremsnummer pochte mir das Herz. Von Herrn Untermüller im Frack angesagt, gab es eine kleine Kunstpause der Vorbereitungen, in der er einige Kissen in abscheulichen Farben und goldbronzierte Vasen mit Pfauenfedern dekorativ auf der Bühne verteilte. Dann ging das Licht aus – es blieb eine Weile dunkel –, und als es wieder brannte, war es rot. In schwüler orientalischer Dämmerung stand Wera mit ihren drei Kolleginnen in den Posen von Vertikonippes auf der Bühne. Die Mädchen trugen lange, seidene Pluderhosen und paillettenbenähte Büstenhalter.
»Der Traum des Kalifen«, flüsterte Herr Untermüller heiser diskret, während hinten jemand auf einen Gong schlug.
›Des Sultans Lieblingsfrau‹: eins der Mädchen lag anmutig auf den Kissen, und die drei anderen waren im Blumenstreuen erstarrt. Wera spreizte die Finger, als ob sie Kakteen streute. So ging es weiter mit ›Die tausendunderste Nacht‹ und ›Das Geheimnis von Bagdad‹ bis zur Abschlußnummer ›Süße Sünden‹, bei der die holden Orientalinnen Sahnebonbons in den Zuschauerraum warfen. Mich traf einer, sehr hart gezielt, ins rechte Auge. Natürlich kam er von Wera …
Als wir Arm in Arm die Festwiese verließen, waren die großen Bogenlampen schon erloschen, aber der Vollmond stand hell über dieser wunderlichen Stadt aus Pappe und Leinwand, die nun schlafen ging. Hinter dem Zirkus schnoberten in einem Gehege Ponys und ließen sich von Wera das Fell kraulen. Wo die Wiese noch wirkliche Wiese war, lag Reif auf ihr.
»Na, wie hab' ich dir als Haremsdame gefallen?« fragte Wera.
»Anschauungsunterricht für Grundschulklassen!« antwortete ich.
»War ich nicht doch ein bißchen verworfen?«
»Als Baronesse bist
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