Wir Wunderkinder
oder verkehrt geschriebenen Fremdwörtern durchsetzt.
So positiv konnte freilich meine Bilanz an jener Jahreswende nicht sein. Gewiß, ich hatte inzwischen längst promoviert und hatte es auch im bürgerlichen Sinne ›zu etwas gebracht‹. Ich saß in einer Zeitungsredaktion mit einem Gehalt, das für einen geistigen Beruf als angemessen zu betrachten war, d.h. das es in einiger Zeit durchaus mit dem eines städtischen Straßenkehrers würde aufnehmen können. Ich durfte bereits Theateraufführungen mit zweiten Besetzungen, 50. und 100. Jubiläumsaufführungen sowie nachmittägliche Schülervorstellungen selbständig rezensieren, nachdem ich mir bei Weihnachtsmärchen an den Talentproben siebzehnjähriger Prinzessinnen und leicht übertreibender Chargenkönige die kritischen Sporen verdient hatte. Immer noch – nun schon im sechsten Jahr – lag Wera in Davos, und immer noch besserte sich, ihren Briefen zufolge, ihr Zustand täglich.
Vater lebte nicht mehr. Noch kurz vor seinem plötzlichen Tode hatte er mir eine kleine Genugtuung bereitet, als er, der allzeit Behutsame und Menschenfreundliche, mir brieflich mitteilte, er habe Onkel Bense endgültig das Haus verboten. Seinen zivilen Neigungen hatte es längst widersprochen, daß ›der alte Narr‹, wie er ihn jetzt nannte, mit einem mißfarbenen Hemd und einem blanken Schulterriemen herumlief. Als er aber beharrlich auf Vater einzureden begann, auch er müsse sich nun für seine Partei entscheiden, der er allein die nationale Rechtgläubigkeit zubilligte, wurde es meinem alten Herrn zu dumm. Er, der sonst immer eine geradezu altfränkische Höflichkeit zur Schau trug, brüllte ihn an: »Bense, du bist das größte Rindvieh, das mir je untergekommen ist.«
Weil Onkel Bense, außer sich selbst, auch seine Uniform beleidigt fühlte, strafften sich seine Schläfenadern und der Schulterriemen.
»Du wirst es bereuen!« schrie er. »Mit solch einer Einstellung wirst du in unserm Dritten Reich bald hochgehen!«
Dabei – Vater hat es mir mit wahrer Lust berichtet – platzte ihm der Riemen, und seine gesamte Haltung kam ins Rutschen. Und, wie um ihn Lügen zu strafen, legte sich Vater wenige Wochen später hin und starb. Er zog es vor, zu den Schatten hinunter –, statt in einem heroischen Regime hochzugehen.
Das alles lag nun schon über ein Jahr zurück, als ich im Februar 1932, zum erstenmal ohne Wera, zu einem Faschingsfest ging. Es war der ›Ball der Zirkusleute‹, bei dem der Theaterprofessor Kutscher alljährlich verkleidete Studenten, Dichter, Maler, Komponisten, Schauspieler, okkulte Philosophen und Seelengymnastiker um sich scharte, kurzum, Menschen jener Art, die der Münchner mit einer Gattungsbezeichnung ›Schlawiner‹ nennt.
Wera hatte mir aus der Schweiz mehr als einmal zugeredet, öfter ›unter die Leute zu gehen‹.
»Du wirst sonst alles verlernen, was ich Dir mühsam beigebracht habe«, schrieb sie, »sogar unser Glockenspiel. Du sollst Dich aber vervollkommnen, bis ich wiederkomme.«
Ich antwortete ihr, daß alle meine alten Kenntnisse sofort wieder vorhanden sein würden, wenn wir nur erst einmal wieder beisammen wären. Ob sie sich etwa auch vervollkommne?
»O ja«, schrieb sie zurück. »Ich werde hier allmählich dick. Du wirst eines Tages das mollige kleine Bürgerfrauchen vorfinden, das Du Dir immer ersehnt hast.«
Ich schickte ihr eine Karte – durch Eilboten! –, auf der stand nur ein Wort: »Biest!«
Am nächsten Tag bekam ich ein Telegramm mit bezahlter Rückantwort, dessen Text schlichtweg lautete: »Bäh.«
Nach zwei Stunden legte ich einem erstaunten, im Dienst erglatzten Beamten ein Antwortformular vor, darauf ich geschrieben hatte: »Kuß. Für andere acht Wörter selbst Möglichkeiten ausdenken. Folgt Name.«
Ganz erwachsen gebärdeten wir uns immer noch nicht …
Ich begab mich also, wenn auch reichlich lustlos, unter die ›Zirkusleute‹. Ein Redaktionskollege hatte mir ein Kostüm geliehen: eine Art Türke mit kunstseidenen Pluderhosen, zu denen ich ein offenes leichtes Sporthemd trug. Irgendwie erinnerte das an Weras Schaubudenkostüm, das vielleicht am Elend unserer Trennung schuld war.
Als ich in den lauten, lärmenden Strudel des Festes geriet, war ich mannhaft entschlossen, dieses Elend zu kultivieren. Ich setzte mich dem Dichter Max Halbe gegenüber und sprach mit ihm so lange über die Vogelwelt der Weichselniederung, bis es ihm zu langweilig wurde. Der professörliche Hausherr und Gastgeber
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