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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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Gerätschaften auf den Kopf, die uns das solide Aussehen von Bordfunkern auf sinkenden Schiffen gaben, und kitzelten mit einem dünnen Draht ein Stückchen Kristall, das wie frisch aus Faustens Hexenküche geliefert aussah. Dann knackte es in unseren Ohren, und manchmal war ein Rauschen darin, wie in den Muscheln, in die wir als Kinder gelauscht hatten, um das Meer zu hören. Mitunter – nicht zu oft – hörten wir dünne, ferne Musik, zart, ein bißchen windverweht, und wenn man den Kristall mit dem Drahtendchen belästigte, war sie wieder weg. Oder eine ferne, geheimnisvolle Stimme sagte eine dreistündige Sendepause an. Die neue Erfindung erschien uns als etwas Wunderbares, weil sie noch so ganz unberechenbar war und weil man hörte, wie schwer es wurde, Musik in die Luft hinauszujagen, um sie mit einem Drahtspitzchen wieder aufzupieken.
    Wera hustete jetzt ziemlich viel. Ich sagte, sie sollte doch mal zum Arzt gehen. Aber sie befürchtete, dann würde wieder einer die Gelegenheit benutzen, eine nationale Regierung auszurufen, und sie kultivierte ihr ›Deutschordensritterhüsterchen‹, wie sie es zu nennen beliebte. Im übrigen begannen wir, dank unserer Drehtürenexistenz, Milchmädchenrechnungen aufzumachen: 1928 promoviere ich, 1929 heiraten wir.
    »Willst du auch promovieren?« fragte ich.
    »I!« antwortete sie, »wo ich doch nach gutem deutschem Brauch schon durch dich Frau Doktor werde! Dann sieht man ja den zweiten Doktorhut gar nicht mehr. Ich setz' deinen mit auf.«
    »Und warum hast du dann überhaupt studiert?«
    »Zwecks Männerfang.«
    Sie wurde immer frecher. Aber auch immer netter. Manchmal sandte ich ein kleines Stoßgebet gen Himmel: Lieber Gott, ich danke dir, daß du die baltischen Baronessen erschaffen hast!
    Eines Vormittags kam Wera nicht ins Kolleg. Am Nachmittag klingelte es. Meine Exzellenzköchin wuselte herein.
    »A Herr in Uniform wär' da!«
    »Auch wenn er da ist, dürfen Sie ihn reinlassen«, sagte ich. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt.«
    Etwas sehr Großes, Blondes in Reichswehruniform trat herein, nahm an der Tür Haltung an und knallte die Hacken zusammen.
    Ich konnte mich nur mangelhaft revanchieren.
    »Kraftfahrer Lieven-Gortschakow«, stellte er sich vor.
    Es war der Name von Titti, Weras Kusine. Was wollte der Riese von mir? Mich wegen der seiner Ordensrittersippe angetanen Schmach auf schwere Lkw's fordern?
    Weil ich nicht wußte, mit welchem Titel man junge Fürsten anredet, sagte ich ›Herr Gefreiter‹ zu ihm, da er entsprechende Abzeichen trug, und fragte nach seinem Begehr.
    »Wera ist krank«, antwortete er.
    Mit einemmal wurde mir, als zerbrächen alle Scheiben der Drehtür mit einem fürchterlichen Klirren, und ein eiskalter Grabeswind wehe mich an. Dabei war draußen echtes Münchner Sommerwetter: Treibhausschwüle mit Gewittergüssen (abends voraussichtlich kalt!). Ich klappte auf meinem Stuhl zusammen, ohne dem fürstlichen Kraftfahrer einen zweiten anzubieten. Aber mein junger Riese war zart wie eine Mutter. Mit seinen Bärenpranken, deren kräftig entwickelte Linien von Motorenöl koloriert waren, strich er mir über den Kopf.
    »Meine Kusine läßt Sie grüßen. Sie ist heute mittag schon abgereist.«
    »Nach Hause?« Ich schrie es in meiner Verzweiflung beinahe hinaus. »Ohne sich von mir zu verabschieden?«
    »Sie hat gemeint, es wäre besser so. Sonst wär's für beide zu schwer geworden. Sobald sie gesund ist, kommt sie wieder.«
    »Ja, was fehlt ihr denn?«
    »Es sind die Lungen«, sagte der Soldat mit behutsamer Umschreibung. »Wera ist etwas unterernährt, und irgendwann muß sie sich mal fürchterlich erkältet haben.«
    ›Die Schaubude‹, dachte ich, ›das Bad in der Fontäne‹ – und an allem gab ich mir die Schuld.
    »Kann man denn wenigstens bald zu ihr fahren?« fragte ich und sah mich schon im vertrauten Zug nach Regensburg sitzen.
    »Sie ist in einem Sanatorium in der Schweiz. Der Arzt meinte: so schnell wie möglich raus aus der Münchner Luft!«
    Raus aus München – fort von mir? Ach, wenn das alles nur wahr ist, dachte ich plötzlich, vor Kummer halb wahnsinnig. Vielleicht ist das Ganze bloß so eine adlige Intrige – »Kabale und Liebe«, man kannte das ja … Oder vielleicht war dieser Mensch da gar kein Vetter! Schließlich war ich ja auch schon erfolgreich als Vetter aufgetreten. Doch alle weiteren Details, die mir der zartfühlende Lastkraftwagenführer noch erzählte, ließen keinen Zweifel an der Richtigkeit

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