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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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seiner Geschichte.
    Ich weiß nicht mehr, wann und wie wir auseinandergegangen sind, ob ich ihn zur Tür begleitete oder dumpf und stumm auf meinem Stuhl sitzenblieb. Ich weiß nur, daß das Zimmer plötzlich nachtdunkel und gleich darauf von greller Helligkeit erfüllt war. Donner schmetterten wie zum Weltuntergang, und in die Pausen des Untergangskonzertes klang ein dünnes, winselndes Piepsen. Ich stülpte mir mechanisch den Kopfhörer über, aus dem das Piepsen kam – ich meinte, er röche noch nach Weras Haar –, und hörte eine bekannte, ferne Stimme sagen: »Sie hörten die 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven.« Ta-ta-ta-ta – das berühmte unheilvolle Motiv. Das Schicksal hatte gepiepst.
    Nun erst wußte ich, wie glücklich wir gewesen waren. Man weiß es immer erst hinterher …
    Allein ging ich in den nächsten Tagen durch die Universität, wie verloren. Wen kannte ich denn schon außer Wera! Ausgerechnet am ersten Vormittag mußte mich auf der Freitreppe zum Lichthof ein blutjunges Mädel ansprechen und fragen, ob man mal einen Hörsaal ansehen dürfe. Obwohl ich die Frage albern fand, führte ich das Wesen, das ich kaum recht ansah – nur daß es unwahrscheinlich lange Beine hatte, fiel mir auf –, zum nahen Auditorium Maximum.
    Das Langbeinige starrte in die braunen Bankreihen, dann sagte es:
    »Danke!« und »Isch will nämlisch vom übernäschsten Jahr an hier ssu studieren beginnen.«
    Unterwegs dachte ich: »Schade, daß die Kleine einen Sprachfehler hatte.«
    Ich ahnte nicht, daß dieses Wesen noch eine beträchtliche Rolle in meinem Leben spielen sollte, und daß der Sprachfehler von einer dänischen Abstammung herrührte.
    Aus meiner verzweifelten Einsamkeit heraus ging ich jetzt sogar manchmal abends in Gasthäuser oder Bräus, um einige Gläser Bier zu trinken. Ich tat es auch an dem Abend, an dem ich Weras ersten Brief aus Davos erhalten hatte. Es war ein rührender Brief. Nichts darin als Liebe und Tröstung für mich. Kaum ein Wort über ihren Zustand, über die ärztlichen Befunde.
    »Es hustet sich viel angenehmer hier oben. Man wagt gar nicht mehr an das zu denken, was wir daheim so im allgemeinen als Luft benutzen. Wenn ich gesund bin, mußt du gleich hier raufkommen, und dann atmen wir uns mal zusammen voll.«
    Der Kraftfahrriese hatte zart angedeutet, daß Wera auch den Winter über noch im Sanatorium bleiben müsse. Jetzt war Mitte Juli. Es war einfach nicht auszudenken, wieviel Zeit ich, eingeklemmt in der zerborstenen Drehtür, würde verwarten müssen. Und ausgerechnet an diesem Tag geschah mir etwas mit einer wirklichen Drehtür.
    Das Lokal, in dem ich saß, war eine volkstümliche Künstlerkneipe, in der – ich ahnte es nicht – auch Tiches mit seinen Mannen verkehrte. Ich las meinen kostbaren Brief eben zum hundertundsoundsovielten Male, als sich etwas steifbeinig ein Mann meinem Tisch näherte, der plötzlich stehenblieb.
    »Na, Schwabinger«, sagte er, »ganz alleine?«
    »Jawohl, Bruno«, antwortete ich lustlos.
    »Ich nehm' dich nachher ein bißchen mit zu uns rüber. Ordentliche Männer dort. So was tut dir mal ganz gut.«
    Der ehemalige Klassenkamerad schritt hinaus, und ich bereute um so mehr, mich mit ihm eingelassen zu haben, als ich in der von ihm angegebenen Ecke laute, eifernde Stimmen hörte.
    Aber da trat Tiches bereits wieder ein, sagte zu dem Kellner, mit einem Blick auf mein Bierglas: »Das übernehme ich!« und gab mir mit dem Daumen einen Wink, ihm zu folgen.
    »Bloß fünf vor elf mußt du dich verdünnisieren«, fügte er hinzu, »da kommt ein hoher Gast!«
    Die Männer klopften schweigend mit der Faust auf den gescheuerten Holztisch, als ich mit Tiches herantrat. Er stellte mich nicht mit meinem Namen vor, aber auch über die anderen hin machte er nur eine weite Geste und sagte:
    »Lauter nette Leute! Einen kennst du ja.«
    Ich kannte keinen, und es gefiel mir auch keiner. Sie trugen Stiefel und Ledergamaschen, Sporthosen und grobe Jacken von landwirtschaftlichem Schnitt. Nur einer war ausgesprochen dandyhaft gekleidet, und neben ihm wies mir Bruno einen Stuhl an. Vorher flüsterte er mir zu:
    »Das ist Karl, der Bruder der schönen Evelyna!«
    Das also war einer der schmutzigen Buben, die einst an Klassenfenster geklopft und mit baumelnden Beinen auf Friedhofsmauern gesessen hatten. Auch woanders hatte dieser Karl Meisegeier inzwischen ›gesessen‹. Nun sah ich da einen geölten Schönling, in dessen Augen ich eine gewisse Ähnlichkeit

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