Wir Wunderkinder
doch mal hinein.«
Wir schauten, von Papyrusstauden umrauscht, in die klare Quelle und sahen unsere Gesichter, dicht aneinandergepreßt. Ein leiser Schauer überlief das blaue Wasser, und wir hatten nur noch ein Gesicht, nur einen Körper. Bienen und Hummeln umsummten ein antikes Marmorkapitäl, das neben uns im Grase lag. Tiefes Hummelgeläut, von den klingenden äolischen Stimmen gebunden – .
Am nächsten Morgen sprach uns beim Frühstück ein deutscher Herr vom Nebentisch an.
»Heute spricht der Führer«, sagte er und hielt das Buttermesser wie ein Schlachtschwert gezückt. »Zum 1. Mai auf dem Tempelhofer Feld.«
»Ist heute der 1. Mai?« fragte ich ahnungslos.
Uns waren alle Tage Mai gewesen und alle die ersten. Die ersten der Schöpfung.
»Ich habe hier einen Wirt aufgetan, der kann den Münchner Sender reinkriegen. Ich werde heute nachmittag den Führer hören.«
»Das wird ihn freuen«, sagte Wera zartfühlend.
Der Herr stach das Buttermesser grimmig in die Semmel und meinte uns damit …
Einmal lagen wir nachts in einem Olivenwäldchen am Berghang. Silberne Blätter schimmerten im Mondlicht. Es war so still, daß man das Grummeln und Poltern des Ätna hörte, dessen Kraterrand auch in dieser hellen Nacht noch mattrot glühte.
»Übermorgen ist unsere letzte Nacht«, sagte Wera leise.
»Es wird die erste sein, immer«, sagte ich.
»In deinen Träumen manchmal noch – vielleicht …«
Ein fremder, unbekannter Ton war in ihrer Stimme.
»Wera, warum sagst du mir eigentlich nie, ob du jetzt schon mit mir nach München zurückkehrst?«
»Weil ich nicht zurückkehre. Nie. Das heißt, ich werde noch einiges in Straubing holen müssen.«
»Was heißt das? Du mußt doch zu mir kommen! Du bist gesund.«
»Ich darf nicht. Ich würde droben eines Tages wieder krank werden. Das wäre nicht gut. Für dich nicht. Für mich nicht.«
»Du meinst doch nicht, daß wir –!«
»Doch. Genau das meine ich. Wir werden in Zukunft bei einer Verwandten in Fiesole wohnen.«
»Wer ist das ›wir‹?« fragte ich so albern eifersüchtig, als hätte ich nie eine Karte von einem Mädchen aus Gilleleje empfangen.
»Meine Familie und die von Titti. Ihre fürstliche Verwandtschaft ist nicht ganz ›arisch‹, wie das jetzt bei euch heißt.«
»Bei euch«, sagte sie, als wäre meine Welt schon nicht mehr die ihre. Ich redete auf sie ein. Ich schwatzte dummes Zeug, wie zu Andreas in meinem Zimmer, daß dieser häßliche Spuk der Tichesse nicht lang dauern würde. Daß ich ohne sie nicht leben könne. Ich küßte sie und biß sie in die Lippen.
Im Städtchen unten klagte ein Esel, und ein leichter Meerwind fuhr durch die Olivenzweige. Ich haßte Wera aus liebender Verzweiflung, und wir gingen in dieser Nacht nicht nach Hause.
Die Sonne ging rot über unserer Lazerteninsel auf und zündete das Meer an. Ich fühlte mich ganz ausgebrannt.
Am dritten Tag fuhren wir nach Norden. In einem Kramladen von Taormina kaufte ich zwei messingne Gardinenringe, die ich Wera und mir an den Traufinger steckte.
Wir reisten mit der Fähre von Messina nach Reggio in Kalabrien. Der Sternenhimmel war auf die Erde niedergestürzt und flimmerte entlang der glücklichen Insel, die wir verlassen mußten, und längs der Küste des näherkommenden alten Europa. Ich haßte Europa jetzt.
In Reggio bekamen wir, dank unserer Gardinenringe, ein gemeinsames Schlafwagenabteil bis Rom. In Rom blies kalter Wind von den Apenninen, von Norden her. Rom hatte wirklich sieben Hügel – doch was ging es mich noch an!
Ich sah ein winkendes Mädchen auf dem Bahnsteig von Florenz stehen und kleiner werden. Immer kleiner …
Eine Lust zu leben …
Aus den Tagebüchern von Bruno Tiches:
6. Juni 1933
»Gestern hatte ich einige wichtige Leute aus dem kulturellen Sektor in unsere Villa eingeladen. Sogar der Doktor {40} ist gekommen. Es war prima Stimmung, weil sich alles bestens entwickelt. Auch der Doktor wurde ziemlich aufgekratzt und sagte: ›Man kann heute wirklich mit dem – sagen: Es ist eine Lust zu leben!‹ Der Name von dem, der das gesagt hat, ist mir entfallen. Es war einer aus der Raubritterzeit, aber nicht Goetz von Berlichingen, der in Parteikreisen meistens zitiert wird.
Doddy machte die Hausfrau und hatte was ganz Tolles angezogen. Der Doktor guckte auch ganz schön hin. Evelyna habe ich auf einige Zeit in ein Hotel in Montreux gesteckt. Das ist in der Schweiz. Sie ist immer so ein bißchen miesepetrig rumgeschlichen und hat ja
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