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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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diesem Abend nicht. Bald lief der Sturm dem Gewitter voraus und löschte die südländisch heiteren Lampions. Eins setzte er sogar in Brand.

»Allerhand erreicht …«
    Nichts aus den Aufzeichnungen des Bruno Tiches vom November 1933 erscheint mir veröffentlichenswert. Es finden sich da, in schlechtem Deutsch, die üblichen langweiligen Tiraden über das ›neue Deutschland‹, wahnsinnige Zukunftspläne, die er von den Größen seiner Partei aufgeschnappt haben mochte, und immer wieder sehr viel mehr Betrachtungen über die Schwägerin Doddy als über seine Frau Evelyna.
    Was mich privat an den Eintragungen dieses Monats interessiert hätte, konnte ich nicht finden. Die für mich schicksalhafte Begegnung mit ihm, die zur gleichen Zeit stattfand, ist nicht aufgezeichnet. Wahrscheinlich erschien sie ihm zu belanglos. Möglicherweise – ich will es zu Brunos Ehre annehmen – hat er über ihre Folgen gar nichts erfahren.
    Wenn ich heute zurückschaue, ist mir, als sei nie vorher ein November so lichtlos düster gewesen wie jener des Jahres 1933. Er brachte das letzte Wiedersehen mit Wera, als sie ihre Sachen im Straubinger Schloß geholt hatte und nun für immer nach Florenz übersiedelte. Für immer …
    Vielleicht hat meine baltische Baronesse schon damals mehr vom kommenden Unheil geahnt als ich, und vielleicht machte das unsere letzte Begegnung so merkwürdig. In der Stadt herrschte eine künstlich bombastische Trauerstimmung, die zum zehnten Gedenken an den verunglückten Feldherrnhallenputsch angeordnet worden war. Wir hätten für uns eine fröhlichere Gedenkfeier begehen dürfen, aber unsere Stimmung schwankte seltsam zwischen Heiterkeit, Wehmut und Tränen.
    Wera weigerte sich, mit in meine neue Schwabinger Wohnung bei den Roseliebs zu kommen.
    »Bitte, erspar es mir«, sagte sie. »Es ist nichts von uns drin.«
    »Aber auch nichts anderes, Fremdes«, antwortete ich mit leidlich gutem Gewissen.
    »Lieber!« sagte sie und streichelte meine Wangen unter knatternden Fahnen, die sich auch an diesem Trauertag als Siegesfahnen gebärdeten.
    Mit ihrem weichen Wildlederhandschuh fuhr sie mir zart übers Gesicht. Sie wußte wohl, daß über kurz oder lang etwas anderes in mein Zimmer kommen müßte.
    Wir gingen zusammen in eine Weinstube, die wir immer geliebt hatten und die uns verleidet wurde, als dicke, uniformierte Männer mit hohen Rangabzeichen am Nebentisch Platz nahmen. Sie tranken teure Flaschenweine und machten uns durch ihr Gebaren den uns teuren, billigen Pfälzer Schoppenwein bitter.
    »Braun und Gold – Herbstfarben«, sagte Wera und schaute zu den Uniformen der Nachbargäste hinüber.
    »Ob ich einmal über alles das werde schreiben können?« fragte ich. »Über dich und mich«, und dann leiser, »– über diese Zeit.«
    »Danke, daß du mir etwas von deinen Arbeiten geschickt hast.«
    »Keine ›Gedichte mit Mädchen‹, wie du sie früher bei mir bestellt hast.«
    »Wie alt wir geworden sind, du … Jetzt kennen wir uns fast zwanzig Jahre. Beinahe ein Silberjubiläum.«
    »Wir feiern auch noch silberne Hochzeit miteinander«, sagte ich und stieß mit meinem Glas an das ihre. »Im Frühling nehme ich Urlaub und komme nach Fiesole. Zur Primavera, zur prima Wera …«
    »Hm, wär' schön, du«, sagte sie und trank in kleinen Schlucken das Glas langsam leer.
    Als sie es abgesetzt hatte, sah ich in ihren Augen Feuchtes funkeln und dachte an die sizilianischen Nymphentränen zurück.
    Auch die Männer nebenan wurden auf Kommando ernst, rasselten von den Stühlen hoch und hoben zeremoniell ihre viel feineren Gläser. Sie spielten Totengedenken.
    Zwei Stunden später kam für mich die Bahnhofsqual. Die Bahnsteigkarte – der Träger – die Tüte mit Mandarinen – die Illustrierten …
    »Willst du auch eine Rätselzeitung?«
    »Danke, Rätsel genug!« sagte Wera und stieg ein.
    Der Gepäckträger, der ihre Koffer verstaut hatte, stellte sich neben mich und sagte vertraulich:
    »Schön wär's, auch so wegreisen dürfen aus dem Sauklima da!«
    Vielleicht meinte er wirklich bloß das meteorologische Klima.
    Die schrecklichen allerletzten Minuten mit der Angst, die man durch hilfloses Geschwätz zudecken möchte!
    »Grüß deine Kusine Titti.«
    »Danke.«
    »Und schreib bald –!«
    Darauf antwortete Wera nicht. Sie sah mir in die Augen. Ich merkte, daß ihre Lippen zu beben begannen. Dann riß sie mit einem Ruck das Fenster hoch und verschwand in ihrem Sitzpolster. Ein grünes Licht blinkte

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