Wir Wunderkinder
Heimatzeitung geheißen, in der vom Todesfall eines Papierhändlers über Tierschutzfragen bis zum Weihnachtskonzert der ›Harmonie‹ alles Unpolitische untergebracht war. Tiches verlieh dem Provinziellen allgemeine Gültigkeit. (Und das taten seine Leute ja in allem!) Während Bruno noch langsam die Front abschritt, war der Zauberer Meisegeier auf der gegenüberliegenden Seite bei den Redaktionssekretärinnen angelangt, unter denen wir einige recht hübsche Exemplare der Weiblichkeit hatten, und Wehhackl hielt mit grimmigen Blicken an den intellektuellen Restbeständen Haltungs- und Kleiderappell.
Der letzte Mann im Redaktionsstab war immer noch ich. So stand ich – als Vertreter kultureller Anliegen ohnehin in schwacher Position – auch als letzter in der Front.
Tiches trat an mich heran und schien mich nicht zu erkennen. Wehhackl, in seinem Schmelzwassereifer über sprachliche Steine stolpernd, stellte mich zeremoniell vor. Ich aber, statt zu erstarren und meinen Arm zu einem Signalmast zu degradieren, lächelte den an, mit dem ich einst Sand in Herrn Rockezolls Luftballonsäckchen geschaufelt hatte und dem ich bei so manchem deutschen Hausaufsatz behilflich gewesen war. Vielleicht – ich gebe es heute zu – meinte ich sogar mein Ansehen im Betrieb zu stärken, wenn ich jetzt schlicht bürgerlich die ›schöne‹ Hand ausstreckte, wie ich's als Kind von Tante Remmy gelernt hatte.
»Guten Tag, Bruno«, sagte ich dabei.
Die Wirkung war entsetzlich. Tiches ergriff meine Hand nicht und sagte gar nichts. Wehhackl regte sich so auf, daß er sein Wasser überhaupt nicht mehr zu Tal bekam:
»D-d-d … d-d-d!« begann er und blieb stecken.
»Sie wollen sagen, Parteigenosse Wehhackl, der kennt den deutschen Gruß noch nicht!« Mit diesen ironischen Worten kam Tiches dem Betriebsobmann zu Hilfe. »Der Mann muß eben mal Nachhilfeunterricht kriegen.«
Raunendes Gelächter setzte ein, und Adjutant Meisegeier eilte herbei, da er zu bemerken glaubte, daß seinem Chef Unbill widerführe. Aber der schritt inzwischen weiter und begab sich nun zum Abschluß gleichfalls auf die Mädchenseite.
Heute, aus dem großen Zeitabstand heraus, frage ich mich, ob mir Bruno mit seiner Bemerkung wirklich schaden wollte, oder ob er als ›Hoheitsträger‹ – allzuviel Hoheit trug er freilich nie – sich einfach für gezwungen hielt, meine plumpe Anbiederung abzuwehren. Für mich wurden die Folgen auf jeden Fall katastrophal.
Am nächsten Vormittag schon wurde ich zum Chef gerufen, neben dessen Schreibtisch mit düsterem Blick unser uniformierter Expförtner stand. Ich war dem Geheimrat immer recht sympathisch gewesen, und ich sah auch jetzt, wie er sich wand, als er mir die Mitteilung machte, daß er mich ›auf einmütigen Wunsch der Belegschaft‹ fristlos entlassen müsse. Der Verlag werde mir aber bis zum nächsten Ersten mein Gehalt weiterzahlen. Das waren immerhin die Bezüge für zehn Tage.
Ich sagte gar nichts. Im Büro brannte Licht. Vor den Fenstern trieb Schneeregen vorbei. Ich wußte nicht, wie nun alles weitergehen sollte. Dennoch bemühte ich mich, die Achseln möglichst gleichmütig zu zucken und in einiger Haltung der Tür zuzustreben.
»Auf Wiedersehen!« rief mir der alte Herr nach.
In seiner Stimme klang kein Triumph mit.
»Hei-hei-heil Hitler«, schrillte die einmütige Belegschaft neben dem Schreibtisch.
Vor der Tür traf ich den fröhlichen Boten, der mir sonst die Post und die Hausumläufe zu bringen pflegte.
»Herr Doktor«, rief er mir vergnügt zu, »die Kollegen hab'n a Freid g'habt, wie Sie das gestern dem Bonzen zoagt ham. Die sag'n alle, sie wüßten no an ganz andern Gruß für an solchen Deppen.«
»Na schön«, sagte ich, »dann bestellen Sie den Kollegen in diesem Sinne meinen einmütigen Abschiedsgruß.«
Diese Botschaft verstand mein Bote nicht. Er starrte mir mit offenem Munde nach.
»Hüpfensah«
Auf einmal hatte sich mein Leben von Grund auf verändert. Ich blieb früh lange im Bett liegen und hörte ein eiliges morgendliches Wirtschaften im Nebenzimmer. Der Gedanke an Kirsten, die sonst immer erst nach mir aufgestanden und zur Universität gegangen war, erschien mir noch als der tröstlichste in meiner ausweglosen Situation.
Aber auch diese Nachbarschaft würde bald nicht mehr bestehen. Ich würde heute noch bei Frau Roselieb mein Zimmer kündigen und froh sein müssen, wenn sie die Kündigung zum nächsten Ersten annähme. Und was dann? Nach Hause fahren? Mich in den
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