Wir Wunderkinder
auf, der Zug setzte sich in Bewegung. Ich ließ meine winkende Hand mit dem Taschentuch wieder sinken. Niemand winkte zurück …
»Aber man muß zugeben, sie haben schon allerhand erreicht«, sagte ein elegant gekleideter Herr, der nach mir durch die Sperre ging, zu seiner Begleiterin.
Bei mir erreichten sie es nun auch sehr schnell. Wenige Tage nach Weras Abreise kam ein Bote in mein winziges Redaktionsstübchen und sagte, ich möchte sofort in den großen Saal der Druckerei kommen. Da ich mit Satz und Umbruch nichts zu tun hatte, fragte ich nach dem Grund.
»O mei«, sagte der Redliche, »es kimmt halt wieder amal a Bonze!«
Draußen auf den Gängen war ein aufgeregtes Gelaufe. Unser Betriebsobmann Wehhackl kam mir in Uniform entgegen, gefolgt von einem Fahnenträger mit der Betriebsfahne. Ich grüßte Obmann und Fahne stumm, mit steil ausgestrecktem rechtem Arm.
»Hei-hei-heil Hitler!« antwortete unser politischer Funktionär forsch.
Wehhackl war früher einmal Pförtner im Verlag gewesen, vor fünfzehn Jahren wegen Trunksucht entlassen worden und in diesem Jahr als ›alter Kämpfer‹ in eine höhere Position zurückgekehrt. Daß er stotterte, hinderte ihn nicht daran, flammende politische Reden zu halten. Jetzt rückte er aus, um für den erwarteten hohen Gast, unter Aufbietung sämtlicher Hoheitssymbole, Aufstellung zu nehmen.
In der Druckerei waren schon die Maschinen angehalten worden, und unser Chefredakteur baute uns, eindrucksvoll gegliedert, als Arbeiter der Stirn und der Faust auf. Er packte einen alten Setzer, der sich eben die Hände waschen wollte, rücklings beim Kragen.
»Unsere Gäste wollen arbeitendes Volk sehen«, rief er ihm zu, »Werkschmutz ehrt den deutschen Arbeiter.«
Dieser spruchbandreife Satz veranlaßte einen unserer ältesten Redakteure zu der vorlauten Frage:
»Sollen wir uns auch Schweiß auf die Stirn schmieren?«
Niemand lachte. Der alte Herr galt ohnehin als pensionsreif.
Wir standen noch eine gute Stunde als arbeitendes Volk herum, untätig und gelangweilt, als das Kommando »Achtung!« in unsere ungedienten Knochen fuhr. Hacken knallten. Wir hörten Wehhackl am Eingang des Saales eine schneidige Meldung stottern. Dann bewegte sich ein Knäuel von braunen Uniformen auf die Maschinen zu. Untertanengeist beseelte die Volksgenossen, denen man gestattete, ihre Werkzeuge vorzuführen. Bald hier, bald dort rasselte etwas und spuckte bedrucktes Papier aus. Die hohen Herren schienen an dem Spielzeug Spaß zu finden und setzten Menschen- und Maschinenmaterial munter in Bewegung. Sie würden es immer in Bewegung halten. Bis an die Wolga und nach Afrika hinein.
Das Häuflein Arbeiter der Stirn, in eine etwas klägliche Statistenrolle gedrängt, mußte am längsten warten, bis es von der schwarzbraunen Lawine erreicht wurde.
Wehhackl schrie wieder: »A – A – Achtung!«, und wirklich nahmen einige von uns Redakteuren die Hände an die Hosennaht und die Hacken zusammen.
Wehhackl wurde ein alpines Schmelzwasser an Eifer. Er sprudelte hervor:
»Darf ich u-unseren Verleger, Vo-volksgenosse Geheimrat Proprozeller vorstellen?«
»Den Geheimrat dürfen Sie weglassen, Parteigenosse Wehhackl«, hörte ich eine rauhe, mir sehr vertraute Stimme sagen. »So was haben wir abgeschafft.«
Der Geheimrat, der als aufrechter Demokrat die besten Absichten hatte, mit den neuen Machthabern gut auszukommen, lächelte nachsichtig und hielt den rechten Arm viel länger steif in die Luft als nötig gewesen wäre.
»So weit alles ganz ordentlich hier«, sagte Bruno Tiches wohlwollend und klopfte unserem alten Herrn auf die Schulter. »Nur die Hygiene werden wir dann noch überprüfen müssen. Das gehört auch dazu, wenn Sie von der Arbeitsfront die goldene Fahne wollen.«
Exgeheimrat Prozeller versprach, in Zukunft so hygienisch wie möglich zu sein.
Tiches schritt, gefolgt von Wehhackl und seinem Adjutanten, dem jüngsten Meisegeier, die Front der angetretenen Intellektuellen ab, erkundigte sich hier und da einmal huldvoll nach etwas Fachlichem – besonders dort, wo er ein Abzeichen seines politischen Unternehmens in einem Knopfloch entdeckte. Anderswo gab er stahlharten Humor von sich, und er wußte auch am rechten Ort zu strafen.
So sagte er, als der Feuilletonredakteur sein Ressort nannte:
»Diesen welschen Quatsch wollen wir uns endlich abgewöhnen. Nennen Sie das mal auf gut deutsch ›Buntes Allerlei‹.«
Richtig, so hatte einst die Spalte unserer kleinen, vierseitigen
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