Wir Wunderkinder
Herrschaftsbereich des Onkels Ortsgruppenleiter begeben?
Als Frau Roselieb das Frühstück hereintrug und mich ob der späten Stunde fragend ansah, brachte ich es nicht fertig, ihr mein Unglück zu erzählen. Erst einmal an die frische Luft! Zu allem andern war Mittag noch Zeit genug.
Draußen war kein Spaziergehwetter. Es war frostig und ein bißchen neblig, und Reif lag auf Bäumen und Zäunen. Dennoch ging ich zu Fuß über die lange Leopold- und die noch längere Ludwigstraße und bog am Odeonsplatz nach rechts ab.
So absurd das auch heute erscheinen mag, aber wie so viele Menschen in einer aussichtslosen Lage wartete ich auf ein Wunder. Ich baute auf das unbegreifliche Walten der Glücksgöttin, die für mich Gestalt und Antlitz meines feisten Schulkameraden Tiches anzunehmen begann. Ich beschloß, wie absichtslos, vor jenem Haus in der Brienner Straße auf- und abzugehen, darin unser aller Unglück geschmiedet worden war.
Wie nun, wenn Tiches sich seiner Arbeitsstätte näherte, mich zufällig unterwegs träfe, mir beiläufig jovial auf die Schulter klopfte und nach meinem Ergehen fragte? Freundestreue und heimatliche Verbundenheit würden mir mein Redaktionsbüro aufs neue öffnen, und selbst Wehhackl würde vor mir die Hand heben und die Fahne senken müssen.
Große, wäßrige Schneeflocken fielen, als ich mit langsam erkaltenden Füßen auf der schönen Prachtstraße hin und her ging. Schlechte Sicht für schwebende leichte Glücksgöttinnen! Die realen dicken aber fuhren ihre schweren, schwarzen Dienstwagen. Ich war eben wieder einmal dem bewußten gelbbraunen Hause nahe, als ein klobiger Fremdenrundfahrt-Autobus dicht hinter mir hielt und einiges an internationalem Publikum, das auch in dieser Jahreszeit noch die Stadt bevölkerte, von sich spie.
Aus dem Getuschel hinter mir und dem Flüstern des Fremdenführers – ich hörte die Worte ›streng vertrauliche Informationen‹ und ›strictly confidential‹ – konnte ich entnehmen, daß hier eine besondere Attraktion geboten werden sollte.
Unter den Sensationslüsternen waren ziemlich viele ältere Damen – wie ich später erfuhr, gehörten sie zu einer Gesellschaftsreise amerikanischer Handarbeitslehrerinnen aus dem Staate Oregon. Der Fremdenführer ließ seine Schützlinge einen Augenblick warten und ging allein einige Schritte in Richtung auf das fragliche oder fragwürdige Haus. Es herrschte genau die Stimmung, die ich aus meiner Kindheit von daheim kannte, wenn ich hinter Vater, der den Zeigefinger schweigenheischend auf die Lippen gelegt hatte, auf Zehenspitzen durch den Wald schlich, um ›Rehlein zu sehen‹.
Der Mann mit den streng vertraulichen Informationen schien vorzüglich Bescheid zu wissen; denn schon brauste aus entgegengesetzter Richtung eine besonders große und schwarze Limousine heran. Der Fremdenführer hob signalgebend die rechte Hand, und etwas unwahrscheinlich Komisches begab sich: Das Rehleinhäufchen stob im Galopp in Richtung auf das Portal, vor dem eben das Auto hielt. Herren nahmen Hüte ab, und einige der atemlosen Handarbeitslehrerinnen sah ich sogar zaghaft den Arm heben, wobei sie auf die anwesenden Eingeborenen schauten, um es möglichst richtig zu machen. Über ihren Händen wurde für Augenblicke der Arm einer Gestalt sichtbar, welche die wenigen Stufen zum Portal hinaufging. Dort schien keine Drehtür zu sein …
Die Autobusbesatzung kam schwatzend zurück, an ihrer Spitze der Fremdenführer mit stolzgeschwellter Brust. Auf den Gesichtern seiner Passagiere sah ich mancherlei: Skepsis, Abneigung, Gleichgültigkeit und – Begeisterung. Man näherte sich dem an der Ecke wartenden Bus, und der Führer sagte zweisprachig:
»Meine Damen und Herren, als nächstes sehen wir das Glockenspiel.«
Da fiel mir etwas Verrücktes ein! Weil meine kalten Füße sich wie ein Reif in der Frühlingsnacht auf meine Wundergläubigkeit gelegt hatten, beschloß ich, die Rundfahrt im geheizten Autobus mitzumachen. Wer würde schon bemerken, daß da ein Mann mehr in den Ledersesseln saß? Wer würde an die Frechheit glauben, daß sich ein unbefugter Einheimischer in den Zirkel der privilegierten Fremden eingeschlichen hatte!
Und siehe da, es kam so. Ich setzte mich in den rückwärtigen Teil des Rundfahrtbusses – ein geächteter, entlassener kleiner Redakteur – und spielte ›große Welt‹. Ich wandte den Kopf nach links und rechts, um alles das staunend zu betrachten, was ich seit elf Jahren kannte, wobei ich streng
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