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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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darauf achtete, es immer erst auf die englische Aufforderung hin zu tun.
    Plötzlich merkte ich, daß ich eigentlich nichts kannte. Alles wurde neu für mich, da es mir als Neuheit angeboten wurde. Hatte ich mir zum Beispiel je die Zeit genommen, das Spiel der bunten Männchen, der Kurfürsten, tanzenden Schäffler und turnierenden Ritter auf dem Rathausturm anzusehen?
    Als da droben die prächtig gewandeten Kurfürsten vor dem frisch lackierten Kaiser Kotau machten, fragte eine der Oregondamen mit staunenden Augen:
    »Is this the ›Führer‹?«
    »Nein, meine Dame«, antwortete der gewichtige Münchner Experte, »vielleicht später amal.« Und mit schönem Schulenglisch übersetzte er: »Perhaps later on, Mylady.«
    In großen Kirchenhallen richteten marmorne Engel ihre Posaunen auf uns. Allein für die amerikanischen Damen aßen die Murilloknaben in der Alten Pinakothek schmatzend ihre Trauben, und das kleine, auf dem nackten Bäuchlein liegende Mädchen von Boucher schien nur für interessierte Herren der Reisegesellschaft auf seinem Sofa zu wippen. Überlebensgroße Rheintöchter würgten sich dem Fremdenverkehr zuliebe mit der Tiefseetaucherei ab.
    Ich hörte, wie der Führer berichtigend versicherte, dies sei nicht von Richard Wagner, sondern nach Richard Wagner gemalt. Nein, Richard Wagner habe den König Ludwig mitnichten im ›Lac de Starnbähr‹ erwürgt. Bestimmt nicht, es müsse sich da wohl um einen Irrtum im peruanischen Gymnasialunterricht gehandelt haben. Nein, dies sei auch nicht die schöne blaue Donau, sondern der blaue Rhein, ›blue Rhine‹. Die blaue Donau sei von Strauß. Nein, nicht Richard – Johann!
    »Johann Wagner? No, señor« – (der Führer nach hinten zum Fahrer gewandt, der sich wegen der Kälte auch die Bildung mit antat): »Du, Wiggerl, was red't denn der für a Sprach?« (Vielleicht Lettisch, dachte ich aus meiner Veroneser Erinnerung heraus) – »Richard Wagner, Richard Strauß, Johann Strauß … Very difficult indeed.« (»Der kapierts net, Wiggerl!«)
    Als wir wieder ins Auto gestiegen waren, schienen die ermüdeten Rund-, Kreuz- und Querfahrer bereits völlig erschöpft und ziemlich anfällig für die nun stärker einsetzende propagandistische Belehrung zu sein. Daß der Komponist Wagner – »Richard, is'nt he?« – sehr stark von dem eben gesehenen Rehlein gefördert wurde, war ihnen allen bereits durch die Presse bekannt. Daß die bestaunte Sauberkeit der Münchner Straßen auf ihn zurückginge, erfuhren sie von dem dicken Münchner Erklärer. Vielleicht hatte ›Er‹ auch die Pinakothek und das Hofbräuhaus gegründet? Zuletzt waren sie von dem Lobpreis des neuen Regimes so überwältigt, daß sie sogar das Hin- und Herfahren der Münchner Trambahn bestaunten, als seien unter einem fluchwürdigen liberalen Regime die Straßenbahnen immerzu nur hingefahren.
    Der Autobus verließ jetzt das Stadtinnere und strebte in rascher Fahrt dem Waldfriedhofsviertel zu. Etwas erschrocken vernahm ich, daß draußen irgendwo ein gemeinsames Mittagessen eingenommen werde, ehe man nach Berg am Starnberger See weiterführe. (»Nein, meine Dame, ich habe nicht behauptet, daß Richard Wagner mit ihm ertrunken ist. Really not!«) Die Essenbons seien, please, bereitzuhalten.
    Die Lage wurde für mich prekär. Durch die nicht vorhandenen Bons würde auch das andere ruchbar werden. An einer Stelle, wo die Landschaft und die Stadtbebauung unübersichtlicher wurden, begab ich mich deshalb nach vorn und murmelte dem Erklärer etwas von ›urgent necessity‹ zu. So ähnlich mußte das wohl heißen, und ich unterstützte meinen Wunsch durch gequälte Gesichtszüge. Der Führer flüsterte dem Fahrer zu: »Halt an Moment, Wiggerl, der Herr muaß amal«, und dann konnte ich aussteigen. Ich schritt langsam um die nächste Hausecke und sauste, für die Bus-Insassen unsichtbar, um die übernächste. Aus der Ferne, von einem Feldweg aus, sah ich noch immer im Schneenebel den großen Autobus warten …
    Ich ging zu Löws, die ganz in der Nähe wohnten. Freund Hans erfuhr von meinem Mißgeschick im Verlag und schien darüber stärker bestürzt als über das eigene.
    »Ja«, sagte ich, »jetzt sehe ich selbst ein, daß man aus Deutschland 'raus muß.«
    »Du, das ist nicht leicht«, sagte Hans Löw. »Meine Vorfahren leben schon länger am Rhein als die ahnenlosen neuen Herren ahnen. Ich weiß nicht, ob ich nicht draußen vor die Hunde ginge. Vorläufig bleib' ich noch hier. Solange es

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