Wir Wunderkinder
hielt mir eine lange Rede, von der ich schon am nächsten Tag, als ich ausgeschlafen und nüchtern war, das meiste wieder vergessen hatte. Jedenfalls muß es eine so eindrucksvolle Standpauke gewesen sein, daß ich ihr danach schwor, nicht zu kündigen.
Als unten die Haustür aufgeschlossen wurde und jemand im Treppenhaus Licht machte, standen wir von den Stufen auf und öffneten endlich die Wohnungstür. Dabei legte sich plötzlich ihre Hand auf die meine.
»Man hat wohl gar kein Ssuvertrauen mehr in die kleinen Nassionen?« sagte Kirsten, während wir hineingingen.
»Doch«, antwortete ich halblaut, »nur noch in die kleinen! Besonders in die mit den langen Beinen!«
»O ja?« fragte sie und strahlte mit dem Flurlicht auf.
»O ja«, antwortete ich.
Weil ihr Zimmer der Wohnungstür um vier Meter näher lag als das meine, ging ich mit zu ihr hinein.
Weihnachtszauber
Aus den Aufzeichnungen des Bruno Tiches:
10. Dezember 1933
»Ich kriege jetzt in meinem Ressort immer mehr Weltanschauliches mit aufgepackt. Da heißt's natürlich aufpassen, daß man mit der SS klarkommt. Aber ich habe ja zum Glück meine guten Beziehungen zu den Meisegeiers. Neulich haben wir mal in der Familie darüber gesprochen, was man mit dem Weihnachtsfest anfangen soll. Man kann doch modernen Menschen wie Karl und Doddy nicht gut zumuten, daß sie noch ans Christkindchen und solchen Zauber glauben. Das Germanische mit dem Jul und der Sonnenwende ist da schon ganz in Ordnung. Aber wir haben eine Menge Geschäftsleute, auch in hohen Parteipositionen, die wollen an die Umstellung nicht 'ran. Die sagen, wenn sie Wotan und Freya ins Schaufenster stellen, kauft kein Mensch – das Christliche hat sich eben zu sehr in den Köpfen eingefressen. Das ist noch ein Dillema (!), das wir allmählich auf dem Wege der Erziehung über die HJ umschiffen müssen. In hundert Jahren ist sowieso A.H. der Weihnachtsmann fürs deutsche Volk.«
Wenn ich so von den weihnachtlichen Kümmernissen Brunos lese, muß ich daran denken, wie ich mit Kirsten zum Christkindlmarkt in der Sonnenstraße ging und wie sie dort ein armes, ganz in Filz und Wolle verpacktes altes Weiblein in Nöte brachte. Meine Langbeinige konnte eben auch außerhalb des Faschings den Teufel im Leib haben.
Wir gingen durch die Budenreihen. Es war die richtige Vorweihnachtsstimmung mit Matsch und Schneeregen, und Kirsten sagte zu mir:
»Wenn wir nun das erstemal ssusammen Weihnachten feiern, möschte isch auch eine Krippe haben.«
Rundum sah man im Lichte von Azetylenlampen und auf künstlichem Glitzerschnee die schönsten heiligen Krippenfiguren, aber auch allerlei Weltliches und Tierisches, getreu den alten Traditionen von Oberammergau und Mittenwald, oder auch von einsiedlerischen Schnitzern des Bayerischen Waldes liebevoll und meisterlich verfertigt. Joseph und Maria und das Kindlein in der Krippe hatten wir schon erstanden, und nun gingen wir zu dem besagten Wollweiblein, um die fromme Statisterie des Geschehens einzukaufen. Kirsten nahm nacheinander die Heiligen Drei Könige in die Hand und stellte den pausbäckigen Negermonarchen kopfschüttelnd zurück.
»Der ist nischt gut«, sagte sie zu der Standlerin.
»Ah gehn'S, gnä' Frau«, antwortete diese – wie mir die Gattungsbezeichnung wohltat! – »schaug'n'S doch, wie sauba da a jed's Falterl von dem G'wand hi'g'schnitzt is. Und so schee schwarz is der.«
»Eben!« sagte Kirsten ein wenig strenger. »Dieser dritte Konisch ist aber ganz blond gewesen. Das war ein Germanischer, und der hat Baldur geheißen. Das da ist eine liberalistische Rassenverfälschung.«
Ich knuffte die freche Person heimlich in die Seite, zumal das arme Weiblein, zwischen überlieferten Glaubenssätzen und befohlener neuer Weltanschauung hin- und hergerissen, runde ängstliche Augen bekam.
»Nehmen'S halt derweil den Schwarzen, gnä' Frau«, sagte sie versöhnlich, »und wenn mir übers Jahr an Germanischen herkriag'n, nacha nehm' i den Kaspar z'ruck.«
So ließen wir uns den geschwärzten Germanenking einpacken, und ich bin heute noch überzeugt, daß die gute Münchnerin im Grunde ihres Herzens so wenig an eine notwendig werdende Tauschaktion glaubte wie wir.
Übrigens ist gerade dieser kleine Negerpausback hernach für uns eine Art Talisman geworden. Er begleitete uns später in die Bombenkeller und gottlob auch wieder heraus und wurde dadurch zum einzigen Überlebenden unseres bethlehemitischen Schnitzwunders.
Was ich mit Wera nie hatte
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