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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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geht.«
    Die reizende Frau Löw bat mich, mit ihnen zu essen. Es gebe zwar nur Gemüse und Kartoffeln – das Fleisch habe man sich abgewöhnen müssen –, aber wenn es mir genüge … Mir genügte es nicht nur, sondern ich aß nach meiner abenteuerlichen Sightseeing-Reise Kartoffeln und Rosenkohl mit einem wahren Heißhunger.
    Danach erzählte ich meine Erlebnisse dieses Tages, und wir wurden so vergnügt, als seien wir nicht arbeitslose Redakteure, sondern emigrierte Monarchen.
    »Hör mal, Ulla«, sagte Hans zu seiner Frau – er sprach ihren Namen ›Ulla‹ –, »wir haben doch noch die bewußte Flasche von Vater. Bring die doch bitte mit 'rein.«
    Ulla brachte eine weiße Flasche, und als Hans den Korken aufgezogen hatte, erfüllte sie das Zimmer mit einem herrlichen Duft. Es war nicht der Geruch des bevorstehenden Weihnachtsmonats, sondern der von Kahlschlägen in den heimatlichen Bergen im Hochsommer, wenn an den Sonnenhängen überm Fluß die Himbeeren reifen.
    »Der ganze Schwarzwald ist da drin«, sagte Hans genüßlich, dem aus der Flasche mit noch größerem Recht der Duft der eigenen Heimat stieg.
    Als wir ziemlich viel vom Schwarzwald in uns hatten, erzählte ich, wie die Ausländer heute früh und wie wir einst daheim die Rehlein belauert hatten.
    »Kennst du das Hüpfensah-Lied?« fragte Hans.
    »Nein«, antwortete ich.
    Hans stimmte an: »Im grünen Wald, dort wo die Drossel singt, Drossel singt« – dieses Lied voll schöner falscher Sentimentalität, das ich dermaleinst auch bei des neuen Rehleins Wehrmacht singen sollte. Doch ahnte ich noch nicht, was mir bevorstünde, und wir sangen selbdritt, vom Himbeergeist befeuert:
    »Der Jäger schoß,
Da lag das Rehlein da,
Rehlein da,
Das man zuvor
Noch munter hüpfen sah,
Hüpfensah …«
    In das ›Hüpfensah‹, das wir aus purem Übermut endlos wiederholten, verflocht Ulla die anmutigsten Koloraturen.
    »Noch hüpft das Rehlein«, sagte Hans danach etwas nachdenklicher.
    »Noch«, sagte ich zuversichtlich.
    Wir tranken Kaffee miteinander, leerten die dicke Flasche hochprozentigen Schwarzwälder Himbeergeistes bis auf den Grund und vergaßen den deutschen November. Draußen schneite es jetzt kräftig, in kleinen dauerhaften Flocken.
    »Was wohl die Damen aus Oregon von mir denken werden?« fragte ich lachend.
    »Sie werden denken, Richard Wagner hat dich auch mit umgebracht«, sagte Ulla aus Schweden.
    In diesem Augenblick klopfte es draußen. Hans bat herein, und ein baumlanger Mann in einer schwarzen Uniform stand unter der Tür. Beinahe hätte ich aufgeschrien. Aber der schwarze Mann sagte höflich:
    »Herr Doktor, i hab' drunten die Heizung noch amal nachg'legt, wann's recht wär'. Mir kriag'ns kalt auf d'Nacht.«
    »Schon gut, Herr Leitner«, antwortete Hans, und mit einem »Grüß Gott« empfahl sich das schwarze Gespenst.
    Nach seinem Gehen beruhigte mich der Freund:
    »Unser Hauswirtssohn weiß genau, wer ich bin und was ich bin«, sagte er. »Aber er hat mir kategorisch erklärt, ich sei ein anständiger Mensch, und da könnten ihn die da droben alle mitsammen … Du siehst, ich habe ebenso meine Leibwache wie dein Rehlein – .«
    Dieser redliche Hausgenosse der Löws gab mir einen Teil meines Zutrauens in das deutsche und bayerische Volk wieder, ungeachtet der Erfahrungen mit den Prozellers und Wehhackls …
    Dem harmonischen Nachmittag schloß sich ein harmonischer Abend an, und als ich draußen auf frischem, weichem Schnee zur Trambahnhaltestelle ging, fühlte ich mich beschwingt wie lange nicht.
    Im Haus der Roseliebs holte mich jemand auf der Treppe ein. Es war Kirsten. Wir waren zunächst beide etwas verlegen, gaben uns die Hand und gingen nebeneinander her.
    Vor der Wohnungstür zog ich meinen Schlüsselbund aus der Tasche, stach aber mit dem gezückten Schlüssel nur ins Ungefähre. Kirsten nahm ihn mir aus der Hand und schloß auf. Dabei kam sie meinem Gesicht ziemlich nahe.
    »Du rieschst sehr schön«, sagte sie mit leiser Ironie.
    »Schwarzwald«, antwortete ich.
    »Es riescht aber nach Ssnaps.«
    Wir standen aus unerfindlichen Gründen immer noch vor der Tür, ohne sie aufzuklinken.
    »Morgen kündige ich bei Frau Roselieb«, sagte ich, meines Elends jäh bewußt. »Ich bin ruiniert.«
    »Ja, isch habe dieses sogleisch bemerkt.«
    Ich wurde ernst, weil sie mich nicht ernst nahm, und rasselte die ganze Geschichte meines Unglücks herunter. Sie setzte sich auf die unterste Stufe der nach oben führenden Treppe und

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